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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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Kanaldeckels geachtet und auf jedes Gewirr dünner Schatten, das die blattlosen Zweige der Bäume auf die Straße warfen. Beth hatte ihre Bilder im chaotischen Durcheinander von Hackneys massenhaften Graffiti versteckt wie geheime Codewörter in einem langen Text, doch jetzt wusste er, wie man sie zu entschlüsseln hatte. Es gab Orte, wo die Bilder zahlreicher waren, Orte, an denen er die Anwesenheit seiner Tochter deutlicher spüren konnte, und diesen Empfindungen war er gefolgt wie ein Pilger.
    Die Spur endete schließlich an der Absperrung der verlassenen Gleisanlage. Er hatte seine Finger durch die Maschen des Drahtzauns gesteckt und ratlos auf den Eingang des Tunnels unter der Hauptstraße gestarrt, wo die Schienen verschwanden, doch dann war sein Blick auf einen der Steine zwischen den Schwellen gefallen, auf den jemand ein stilisiertes schwarzes Kaninchen gemalt hatte, das gerade in seinen Bau huschte.
    Paul hatte gelächelt, seine Schuhspitze in den Zaun gestemmt und sich ans Klettern gemacht.
    Im Tunnel fand er eine Taschenlampe, die noch funktionierte. Als er sie anknipste und die Bilder sah, geriet er für einen Augenblick leicht ins Taumeln – so viele Bruchstücke von Beths Gedanken –, doch kein einziges davon sagte ihm irgendetwas. In diesem kurzen Moment der Panik schien eine unvorstellbare Distanz zwischen ihnen beiden zu liegen …
    Ihm fiel wieder ein, wie gereizt und besorgt er gewesen war, weil sie erst spät zu sprechen begonnen hatte, wie er nachts nicht hatte schlafen können, weil er sich wieder und wieder ausgemalt hatte, seine Tochter würde sicher noch als Erwachsene bloß diese Babylaute vor sich hin brabbeln, und vollkommen ratlos gewesen war, wie er wohl damit klarkommen würde, falls er niemals die Möglichkeit hätte, mit ihr zu reden . Marianne hatte ihn ausgelacht, doch seine Angst hatte sich unsagbar echt angefühlt.
    Und jetzt, hier in dem eigenartigen verlassenen Tunnel, entdeckte er so viel Gewalt in den Bildern an diesen Wänden, als hätte Beth all ihre Wut auf die gemauerten Ziegel entladen. Dort jagte ein schwarzer Stier heran, ein Stück weiter wand sich eine Schlange um eine Klarinette, und Gerippe und Sterne und Schmetterlinge tänzelten über Gebirgsketten, und –
    Marianne.
    Keuchend atmete er aus, als hätte jemand ihm einen Schlag versetzt. Marianne, seine Frau, Beths Mutter , sie erschien überall, immer wieder, verwaschen und bleich wie ein Gespenst.
    Die andern Graffiti waren ein grellbunter Garten aus leuchtenden Traumbildern, und mitten darin wirkten die weißen Kreidezeichnungen, die Marianne zum Leben erweckten, so unscheinbar, dass er seine Frau fast übersehen hätte – niemals hätte er das für möglich gehalten, und doch hätte er sie fast übersehen .
    Er blickte erneut auf die heranstürmenden Tiere und schwirrenden Planeten und Soldaten und Monster, und dieses Mal sah er die Schlachten, die Beth geschlagen, die Welt, in die sie sich geflüchtet hatte, und die Erinnerung, die als Kreidegestalt darin spukte.
    Tastend griff er in seine Jacke, seine Finger strichen über Papier. Er zog ein zerlesenes Taschenbuch aus der Innentasche. Ja, er verstand.
    Er seufzte, blies eine Atemwolke in die Kälte des Tunnels. »Beth«, begann er, »es tut mir so … « Er brach ab, hielt die Entschuldigung noch zurück. Wenn er irgendwann leid sagen würde, schwor er sich, dann wollte er sicher sein, dass sie es auch hörte. Er hob den Blick auf eines der Kreideporträts von Marianne und schluckte.
    »Ich werde sie finden«, sagte er. Diesmal zitterte seine Stimme nicht. Er wusste, dass er nicht der erste Mensch war, der mit diesem Bild von Beths Mutter sprach, und Wärme stieg in ihm auf. Zum ersten Mal, seit seine Tochter verschwunden war, hatte er das Gefühl, er begriffe ein wenig von diesem Mädchen, das ihre Mutter, immer und immer wieder, an die Wände dieses dunklen, sicheren Ortes gemalt hatte.
    Er knipste die Taschenlampe aus und machte sich auf den Weg zum Ausgang des Tunnels. Der Kreideblick seiner Frau sah ihm nach. Trotz der Müdigkeit, die ihm wie Schlick in die Glieder sickerte, fiel er in einen behäbigen Trab. Er hatte ein großes Gebiet zu durchstreifen auf seiner Suche nach frischer Farbe.

Kapitel 35
    »Genügt Euch das als Beweis ihrer Gunst, Steinschwinge?« Gossenglas’ Ansprache klang sonderbar förmlich. »Unser aller Herrin der Straßen hat ihre treuesten Krieger gesandt, um feierlich ihre nahe Rückkehr zu verkünden.«
    Sie hatten sich in

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