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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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aller Geräusche, die der Wind mit sich herauftrug: Bulldozer und Presslufthämmer und das ferne Knistern von Funkgeräten.
    Der Stacheldraht schnürte sich enger um Pen, und sie rang nach Luft. Die Widerhaken öffneten ihren Mund, fraßen sich in ihre Zunge. Die Worte, die sie in die Wand gekratzt hatte, hoben sich krass von dem nackten Beton ab.
    »Hör ihn«, flüsterte sie. »Hör ihn. Lieb’ und fürcht’ ihn.«
    Sie blickte hinab auf die Baustelle, auf das fieberhafte Treiben von Aufbau und Zerstörung und merkte, wie sie zu würgen begann. Kräne schwenkten hierhin und dorthin, Bagger schlugen ihre Zähne ins Erdreich wie hungrige Hunde. Tosender Lärm hallte von halb errichteten Bauwerken wider. Selbst von hier aus konnte Pen erkennen, dass keine der Maschinen von einem Menschen bedient wurde, doch das war nicht der Grund dafür, dass ihr speiübel wurde. Es war die Tatsache, dass etwas dort unten starb .
    Schreie gellten im Kreischen des Stahls auf den Trümmern. Pen blinzelte, und im nächsten Augenblick hatte sie begriffen, dass die Fundamente und freiliegenden Rohre Leiber und Knochen waren. Sie sah, wie die Mäuler der Bagger Wunden rissen. Das dort waren Menschen – vielleicht nicht aus Fleisch und Blut, aber dennoch Menschen, so wie die gläserne Frau, die versucht hatte, ihr zu helfen. Menschen, die geschaffen waren aus der Stadt selbst.
    Von hier oben konnte sie zahllose schwarze Flecken sehen, verteilt über ganz London, versteckt zwischen den flimmernden Lichtern: Baugrundstücke, Abbruchgelände – Dutzende und Aberdutzende Stätten des Todes: ein verborgenes Massensterben.
    Hör zu. Sie wusste nicht, woher der Gedanke kam.
    Nadelspitze Stacheln bohrten sich in ihre Brust und pressten ihr jäh alle Luft aus der Lunge. Ihr Exoskelett aus Drahtsträngen verkrümmte sich zu einer unregelmäßigen S-Form, und Pen sackte keuchend auf die Knie. Eisige Luft brannte ihr in den Augen. Am Rand ihres Sichtfelds vermochte sie auszumachen, dass ihr Finger zwei Worte in den Boden kratzte.
    »Ich bin Reach.« Die Stimme sang im Kreischen der Kräne.
    Die beiden Worte waren unmittelbar neben ihrem Augapfel.
    Hör zu.

Kapitel 23
    Fil machte blitzschnell ein paar Sätze vorwärts, streckte seine Hände nach den herabregnenden Abfällen. Hier und da fing er etwas auf – ein Stück Mörtel, dessen Form entfernt an ein Gehirn erinnerte, eine schimmlige Karotte – und ließ den Rest auf das Kopfsteinpflaster prasseln. Er krümmte seine Füße unter die Eierschalen, bremste ihren Fall, sodass sie unversehrt auf dem Boden landeten.
    Beth hetzte zu ihm, um zu helfen, doch unter ihren Füßen ergossen sich Müll und Insekten zu einer knöcheltiefen Lache. Fäulnisgestank hüllte sie ein, und ihr drehte sich der Magen um. Verärgerte Fliegen schwirrten ihr über die Wangen.
    »Pass auf sein Auge auf!«, bellte Fil, und sie riss instinktiv ihren Fuß zurück, sodass sie die zu Boden gefallene Eierschale um Haaresbreite verfehlte. »Was hast du vor, willst du ihn blenden?«, blaffte er, seine graue Haut schreckensbleich. »Gib’s her.«
    Sie bückte sich und reichte ihm die Schale. Nagetiere und Käfer wuselten durch den Müll. Für einen kurzen Moment schienen sie die Abfälle zu so etwas wie einem Körper zusammensetzen zu wollen; doch schon im nächsten vergaßen sie alles andere und gingen fauchend aufeinander los. Der Haufen verströmte eine Wärme wie die eines menschlichen Körpers.
    Fil machte sich daran, den Müll neu zu ordnen und dem wuselnden Ungeziefer zu helfen. Einen Augenblick lang sah Beth ratlos zu, dann begriff sie: Das Ganze war so eine Art Chirurgie-Spiel – Gossenglas aus den Abfällen neu zu erschaffen, Trinkhalme als Rippenersatz über dem Fahrradpumpenherz zu platzieren. Sie spielte mit. Durch die Schweißperlen aus saurer Milch auf dem Patienten fühlte die Sache sich ziemlich echt an.
    »Ist verletzt?« Victor kam zu ihnen herübergestapft. »Kann helfen; war Sanitäter in Speznas … « Er verstummte, als er sah, was sie dort taten, dann durchwühlte er die herumliegenden Abfälle und förderte eine ausrangierte Rolle Packpapier zutage.
    »Hier, gut für Unterarm.«
    Fil nahm sie mit einem knappen Nicken entgegen; jetzt hatten sie einen Rumpf, einen Kopf und einen Arm, und die bis eben noch luftleere Fußballlunge flatterte hektisch, begann wieder zu atmen. Stinkender Abfallsaft spritzte auf wie eine Speichelfontäne, als Fil eine Hand auf den Brustkorb legte und leise die Atemzüge

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