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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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starrte auf die Verse, die sie geritzt hatte – doch hatte wirklich sie das geschrieben oder dieses Etwas , dieses Drahtwesen, das sich um sie geschlungen hatte? Sie war verängstigt und erschöpft, aber sie konnte nicht mehr weinen.
    Sie war so müde, dass sie ohne den Draht, der sie aufrecht hielt, einfach zusammengeklappt wäre. Die dornigen Stränge hatten sie über Dächer gejagt, durch Hinterhöfe und Straßen, bis schließlich Bürokomplexe sich um sie herum erhoben hatten wie die Steilwände einer Schlucht. In rasendem Tempo hatte sie Fußgänger umgerannt, sie einfach zur Seite geschleudert. Eine alte Frau hatte voller Entsetzen zu ihr hinaufgestarrt, aber der Draht hatte Pen so rasch vorwärtsgetrieben, dass sie in den vorbeiwischenden Schaufenstern kaum einen Blick auf sich hatte erhaschen können – aufgerissene Nasenlöcher, zerkratzte Wangen, blutige Zähne – , bevor sie weitergerast war.
    Dann hatte jäh eine Wand vor ihr aufgeragt, und Pen war unter einem Türsturz hindurchgetaucht, war geduckt über schmale Gänge gehetzt, durch winzige Hohlräume in ein Labyrinth aus zusammengestürzten Betonplatten geklettert. Ein Gestank nach nassem Zement hatte in der Luft gelegen, und sie hatte sich ohne einen Laut zwischen den Trümmern hindurchgeschlängelt.
    Als der Draht plötzlich innegehalten und sie inmitten der Finsternis hatte erstarren lassen, hatte Pen sich nicht länger zurückhalten können und geschrien. Die Widerhaken hatten an ihren Lippen gerissen, Blut war ihr in den Rachen gesickert. Wimmernd hatte sie ihre wunde Zunge gespürt, voller Angst, sie wäre hierhergeführt worden, um zu sterben, doch nein – zuckend hatte der Draht seine Lage verändert, ihre Haut in einem neuen Muster durchstochen, seinen Lauf wiederaufgenommen.
    Erst als sie weit unten eine Polizeisirene aufheulen hörte, begriff sie, wie hoch sie geklettert war.
    Sie war auf das oberste Stockwerk eines halbfertigen Hochhauses gestürmt. Überall nackter Beton, eine Außenwand fehlte. Alles, was sie von dem Bauplatz unter ihr trennte, war eine dünne Abdeckplane und ein gut hundertfünfzig Meter tiefer Abgrund. Ein Windstoß rauschte heran, und die Plane schlug knallend zur Seite.
    An Kranarmen montierte Neonlampen, die wie Stielaugen wirkten, richteten sich auf sie, bleichten mit ihrem Licht ihre Haut kreideweiß, weißer als die eines weißen Mädchens. Ihr Blut, das an den Widerhaken in ihrem Fleisch verklumpte, war schwarz.
    Pen spürte, wie ihr die Sinne schwanden. Sie wollte in sich selbst versinken, nichts empfinden, tot sein – alles wäre um so vieles einfacher. Sie wollte die Augen schließen, wollte es so sehr …
    Langsam ließ sie die Lider sinken, doch ein Drahthaken strich über den wässrigen Tränenfilm auf ihrer Hornhaut, ganz sacht. Sie fand neue Reserven der Angst, um ihre Augen offen zu halten.
    Der Draht verlangte ihre Aufmerksamkeit.
    Sogar jetzt, in der dunkelsten Nacht, tobten Maschinen über die Baustelle: Kräne schwirrten, Metall rieb schrill über Metall; Planierraupen brüllten, und in der Ferne ertönte das entsetzliche Schlagen von Hämmern.
    Warum? Sie atmete das Wort hinein in ihre Kehle und fühlte, wie sich ihr Arm erneut hob. Pen war dankbar – sie wollte diesem Etwas nicht dankbar sein, aber dennoch spürte sie, dass ein heißer Schwall der Erleichterung sie durchströmte: Erleichterung, weil das Wesen nicht ihre Zunge packte und daran riss und quetschte wie an einem Akkordeon, um sie ihre eigene Frage beantworten zu lassen. Stattdessen lenkte es ihren Finger und kratzte seine Antwort in die staubverkrustete Wand.
    Des Krans klarer Schrei, Stahl und Glas,
    Im Beben der Erde dort war’s.
    Hör ihn, hör ihn.
    Lieb’ und fürcht’ ihn.
    Selig, still, in heil’gem Müll.
    Pen verstand nicht das Geringste. Frustriertes Schnaufen drang aus ihrer Nase. Wollte der Draht sich mit dieser dämlichen Reimerei über sie lustig machen? Woher wusste er überhaupt von ihren Gedichten?
    Bist du in meinem Kopf? Die Vorstellung versetzte sie augenblicklich in noch größere Panik. Es war leicht zu glauben – während der Draht ihr den Hals verdrehte, damit sie auf seine unsinnigen Verse starrte – , dass dieses Wesen durch ihre Kopfhaut ihre Gedanken anzapfte, dass für die Drahtdornen sogar ihr Verstand in Reichweite war.
    Reach.
    Ein stählernes Kreischen zerriss die Luft, ein Schrei wie der Widerhall ihrer Gedanken.
    Reach.
    Das Hochhaus erzitterte. Eine Stimme bildete sich an den Rändern

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