Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
nicht anders konnte, als auf das kalte Buffet zu starren. Ihr Lachen verklang, und im selben Moment begriff sie den Grund für ihre neue Bewegungsfreiheit. Der Draht wollte, dass sie aß. Er wollte, dass sie sich etwas aussuchte .
Pens Magen verkrampfte sich, mit einem Mal war ihr übel. Wieso? Wieso wollte dieses Drahtmonster sie füttern? Wieso hatte es sie schlafen lassen? Die Fragen rasselten durch ihren Schädel: Wozu hielt dieses Ding sie bei Kräften?
»Nein« , flüsterte sie, und um ihren Kopf war gerade so eben genügend Spiel, dass sie ihn zu schütteln vermochte, als winzige Geste des Widerstands.
Die Drahtschlingen ächzten, während sie sich fast bedauernd abermals festzurrten. Pens letzter ungehinderter Atemzug wurde abgeschnitten, erstickt in einem würgenden Schluckgeräusch.
Ihre Augen blieben weit aufgerissen, und sie sah zu, wie ihre Hand nach dem Essen griff. Mit jeder Faser ihres Körpers wollte sie sich abwenden, doch natürlich gelang es ihr nicht. Ihre Hand schwebte kaum einen Zentimeter über dem verrottenden Kadaver. Sie wusste, dass der Draht nicht zögern würde, ihn ihr in den Rachen zu schieben.
»Warte – « Sie formte das Wort mit geschlossenen Lippen und hoffte, dass der Draht es trotz der verstümmelten Konsonanten verstehen würde.
Der Draht hielt inne, dann lockerte er sich wieder, und dieses Mal ließ Pen sich nach vorn sacken. Die Brotscheiben des Sandwichs kamen ihr klamm vor, als ihre Finger sich darum schlossen. Ein lauwarmes Rinnsal lief ihre Wange hinab: eine Träne. Sie konnte sie nicht abwischen. Das Essen schmeckte nach Asche und Moder. Der Draht spannte sich um ihren Kiefer, half ihr beim Kauen.
Danach lag sie auf dem Boden und starrte hinaus in die Nacht, wo die Kräne im Licht der Bogenlampen ihre monströsen Schatten warfen. Sie spürte, wie ihr erneut die Kräfte schwanden, fragte sich, ob sie wohl in sich selbst verschwinden konnte, vergessen konnte, wo sie war.
Sie fragte sich, ob sie sich selbst dazu bringen konnte, verrückt zu werden.
Doch das würde bedeuten, ihren Körper ganz und gar diesem Ding zu überlassen, das ihn gepackt hielt.
Es braucht dich , flüsterte sie sich zu, du bist sein Wirt. Es braucht deinen Körper, und das ist wichtig. Das ist eine Schwäche . Das ist eine Waffe . Deine Zeit kommt, Pen. Deine Zeit kommt.
Einer der Scheinwerfer schwenkte herum, und sie starrte grimmig in das gleißende Licht. Unter ihr arbeitete Reach. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, ob er wusste, dass sie da war.
»Ich bin Reach.
Ich bin Reach.
Ich werde sein.«
Pen saugte ihre Unterlippe zwischen die Zähne und biss zu, ganz fest. Es war alles, was sie tun konnte mit ihrem lächerlich winzigen bisschen Bewegungsfreiheit. Und es fühlte sich gut an.
Ja , sagte sie sich. Ich werde sein.
Kapitel 25
»Wisst ihr was?«, blaffte Beth. Sie verschränkte die Arme und starrte Fil wütend an. »Verpisst euch!«
Gossenglas wandte sich ab und betrachtete in einer Fensterscheibe prüfend ihr Spiegelbild.
Beths Verblüffung war nicht allzu groß gewesen, als der hinfällige Kerl aus Müll sich ganz allmählich als Frau neu zusammengesetzt hatte.
»Was?«, fragte Fil.
»Verpisst euch«, wiederholte sie.
»Tja … das ist ziemlich genau das, was wir grad tun wollten.«
»Ich weiß – verpisst euch mit euerm Verpissen. Ihr könnt euch nicht einfach verpissen. Ihr braucht mich – «
»Warum?«, erkundigte sich Gossenglas sanft. »Weil du so einen duftenden Wortschatz hast?«
Beth funkelte sie an. »Ach, dir gefällt mein duftender Wortschatz, ja? Du herablassende Fo–«
»Lizbet!« , schnitt Victor ihr das Wort ab und klang dermaßen empört, dass ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg.
»Nicht ladylike!« Der Russe lümmelte auf dem Gehweg neben seinen eng aneinandergekauerten Glashautsoldaten, die allesamt prompt gegähnt und sich gestreckt und die Augen geschlossen hatten, sobald die Sonne aufgegangen war. Er nahm einen ordentlichen Schluck aus seiner Wodkaflasche, dann blickte er trübsinnig von einem zum andern und murmelte: »Überhaupt gar nicht ladylike.«
Fil machte einen Schritt auf Beth zu. Seine Augenränder waren wundrot – an ihm ein erschreckend menschlicher Farbton. »Beth, ich glaube, du hörst mir nicht zu.«
»Ach nein? Dabei hab ich klar und deutlich gehört, wie du gesagt hast, ich soll abhauen.«
»Beth!«
»Fil!« , giftete sie. »Ich geh nirgendwohin.«
Sein Kiefer zuckte, dann schnaubte er kurz und drehte sich wieder zu
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