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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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tun, als wäre ihr Körper vollkommen unwichtig. Deine Seele ist federleicht , flüsterte sie sich im Geiste zu. Sie wird sich von deinem Körper schälen wie der Blütenkelch der Lampionblume. Aber es half nichts. Sie geriet wieder in Panik, atmete schneller – sie konnte sich einfach nicht so weit bringen, daran zu glauben.
    Was, wenn außer dem Leib nichts existierte? Wieder und wieder schoss es ihr durch den Kopf: Was, wenn es so etwas wie eine Seele überhaupt nicht gab? Was, wenn da gar kein Teil von ihr übrig war, den der Draht nicht in seinen Fängen hielt, wund –
    – geraubt . Falls dem so war, dann gehörte sie ganz und gar ihm.
    »Ich bin Reach.
    Ich werde sein.« Reachs Stimme drängte sich über die der Sterbenden. Pen wurde klar, dass es weder Englisch noch Urdu war, was sie hörte; es war die Sprache der Zerstörung. Die Schwingungen der Worte vibrierten durch die Widerhaken in ihrer Kopfhaut, so als ließe das Drahtmonster sein Bewusstsein über den Stahl in Pen hineinträufeln.
    »Ich. Werde. Sein.«
    Mit wachsender Ehrfurcht begann Pen zu begreifen, dass sie Zeugin einer Geburt wurde. Irgendetwas hievte sich hier ins Dasein, stampfte sich selbst aus dem Boden, und es schauderte sie vor der Willenskraft, die dazu nötig war.
    Reach meißelte sich seine Gestalt aus den lebendigen Knochen der Stadt.
    Irgendwann überwältigte sie die Erschöpfung, und die Stimme folgte ihr in die Dunkelheit.
    Pen erwachte, als eine Brise über sie hinstrich. Sofort wollte sie nach ihrer Bettdecke tasten, musste allerdings feststellen, dass sie sich nicht bewegen konnte. Aus unerfindlichen Gründen schaffte sie es nicht, die Augen zu öffnen. Sie zuckte und zerrte oder versuchte es wenigstens, aber irgendetwas riss an ihrer Haut, etwas, das sich wie kalte Dornen anfühlte. Dann fiel ihr wieder ein, wo sie war.
    Ein stechender Ruck ging durch ihre Lider. Instinktiv gehorchten sie und öffneten sich flatternd. Es war Nacht; der Mond schimmerte trüb durch schmutzig sepiafarbene Wolken, überstrahlt von den grellen Neonlampen an den Gestängen der Kräne.
    Der Draht bugsierte sie auf die Füße und bog ihren Kopf nach unten. Eine Botschaft war in den Staub gekritzelt: Nahrung . Zorn wallte in ihr auf. Das Wesen hatte ihren Körper benutzt, während sie schlief – ohne dass sie es überhaupt mitbekommen hatte.
    Dieses Mistding hat dich gekidnappt und aufgespießt und kaum schlafen lassen – und jetzt regst du dich darüber auf? Doch die Wut blieb. Ganz beiläufig war eine weitere Grenze verletzt worden. Mehr denn je fühlte ihr Körper sich an, als gehörte er nicht ihr.
    Nahrung.
    Sie merkte, wie ihr Arm sich ohne ihr Zutun streckte, um auf etwas zu zeigen, und gleich darauf drehte ihr Kopf sich in dieselbe Richtung. Der Draht hatte ihr Geschenke besorgt: einen mit Flintstones-Glasur überzogenen Geburtstagskuchen; drei verschiedene halbe Sandwiches; einen matschigen Batzen, der verdächtig nach Katzenfutter roch; einen zerfetzten Fellhaufen mit dem fauligen Gestank nach überfahrenem Tier; eine gestauchte Rolle rote Knetmasse; und eine Batterie mit stromführenden Drähten, die zuckten und Funken sprühten. Bei all den Gerüchen drehte sich Pen der Magen um. Hier also war allerlei Nahrung. Der Draht wusste nicht, was sie aß.
    Ihre Füße schlurften über den Boden, als sie sich auf das Essbare zubewegte.
    Unterdessen ging Reachs kakofonischer Monolog hinter ihr weiter:
    »Ich werde sein.
    Ich werde sein.
    Ich bin Reach.«
    Fliegen tanzten über dem Tierkadaver und warfen ihre Schatten wie dicke Kleckse an die Wand. Pen ging neben dem pelzigen Etwas in die Knie. Der Gestank drängte in ihre Nasenlöcher, jagte ihre Kehle hinunter und hieb ihr mit Macht ins Gedärm. Unvermittelt ließ der Druck in ihrem rechten Arm nach, und sie wackelte mit den Fingern. Es kribbelte heftig, aber sie konnte ihre Hand bewegen! Sie rollte ihre Schulter, und der Draht machte die Bewegung mit, die Widerhaken drückten nur ganz sanft auf die Haut. Übermut stieg ihr in die Kehle.
    Sie testete ihren linken Arm. »Au!« Die Stacheln bohrten sich tief in ihr Fleisch, augenblicklich floss Blut. Der Käfig um ihren linken Arm blieb also weiter starr.
    Aber sie hatte doch gerade eben –
    Tatsächlich: Der Draht um ihren Kiefer hatte sich gelockert. »Ich hab geschrien – Scheiße noch mal, ich kann sprechen !«, jubelte Pen, und ihr Gelächter hallte beängstigend irr von den Betonwänden wider.
    Ihr Kopf wurde zur Seite gerissen, sodass sie

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