Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Wiedergutmachung. Das Geisterwesen war ihr tatsächlich ausgewichen, dachte sie voller Ehrfurcht. Sie hatte sich das nicht eingebildet. Ihr fiel wieder ein, wie beschämt der Gleisgeist auf sie gewirkt hatte, als er vor dem Angriff des Güterzugs geflohen war. Du warst sein Passagier , hatte Fil gesagt. Der Geist war ihr nicht nachgejagt, er hatte auf sie aufgepasst .
Wer bescheuert genug ist, in einem Gleisgeist zu fahren und ’nen anderen anzuschreien, braucht alle Hilfe, die er kriegen kann.
Offenbar war ihr Gleisgeist derselben Meinung gewesen.
Sie spürte, wie dankbar sie war, wie übel ihr war, wie wenig sie meinte, diese Hilfe verdient zu haben.
Glaubst du, sie könnten nicht fühlen? Und denken und lieben? Seine Worte hallten ihr durch den Kopf. Hier steht das Leben von mehr Wesen auf dem Spiel als nur von denen, die aussehen wie du.
Sie fühlte einen Kloß in der Kehle und merkte, wie sie zu weinen begann.
»Beth.« Fil und Gossenglas waren wieder an der Gasseneinmündung aufgetaucht. Immer noch flitzten Ameisen über Glas’ Wange und stopften verbliebene Löcher mit zerrissenen Streichholzschachteln, aber inzwischen wirkte der Müllgeist einigermaßen stabil.
Fils zerkratztes und verbranntes Gesicht verzerrte sich. Seine Stimme war rau, so als hätte er sich bis eben lautstark gestritten. »Beth«, versuchte er es erneut.
Diese raue Stimme passte nicht zu ihm, dachte Beth; er war bloß ein Teenager, genau wie sie.
Er machte einen Schritt vorwärts, dann blickte er zurück zu Gossenglas, als erhoffte er sich Unterstützung. Der Mann aus Müll lächelte grimmig und bedeutete ihm mit knapper Geste weiterzureden.
»Beth«, sagte Fil. »Du musst hier weg. Sofort.«
Kapitel 24
Zitternd hockte Pen im obersten Stock des Hochhauses, während die Morgendämmerung in die Winkel und Spalten der Baustelle kroch. Sie hatte den Sonnenaufgang herbeigesehnt, doch er ließ sie im Stich: Das Tageslicht vermochte ihren Albtraum nicht zu vertreiben.
Weit unter ihr verrichteten die Maschinen weiter unbarmherzig ihr Werk. Gelähmt, wie sie war, konnte sie nur ab und zu einen Blick auf den Schwenkarm eines Krans erhaschen oder an der Seite eines Baggers gelbes Absperrband aufleuchten sehen, wenn der Wind die Plane für einen kurzen Moment zur Seite schlagen ließ. Der Ursprung der Schreie blieb gnädigerweise unsichtbar.
Stimmengewirr schwebte herauf: Touristen besichtigten die Kathedrale. Für sie klang dieses Gemetzel sicher wie der Lärm jeder anderen Baustelle. Für Pen selbst tat es das ja auch. An den Geräuschen war absolut nichts Besonderes; es war ihr Gehör , das sich verändert hatte. Sie hörte die Schmerzensschreie, die aus den zermalmten Grundmauern drangen, und sie ließen sie frösteln.
Als das leuchtende Rot der aufgehenden Sonne verblasste, entschied der Draht, dass es Zeit sei für sie zu schlafen. Ausruhen , kratzte er mit ihrem Finger in den Staub. Dann streckte er ihre Knie und die Hüfte und legte sie flach auf den Rücken. Er umhüllte sie unnachgiebig, wie ein Sarg aus stählernen Strängen.
Womöglich ist das Ding nachtaktiv , überlegte sie, oder vielleicht denkt es, dass ich’s bin. Immerhin bin ich wie ’ne Betrunkene durch die Nacht gestolpert, als es mich gepackt hat.
Der Draht hatte sie zuvor in die absurdesten Posen und Haltungen gezwungen, sie immer wieder umgestaltet, wie ein Kind, das versucht, die Beweglichkeit eines neuen Spielzeugs zu testen. Jetzt strich er ihr sacht mit einem der Widerhaken über die Haut und ließ sie ein paar Sekunden lang an die triste Betondecke starren, ehe seine Ranken nach ihren Lidern griffen und ihr die Augen schlossen.
Es war das erste Mal seit Tagen, dass er ihr erlaubte, die Augen zu schließen, doch Pen konnte nicht schlafen. Ihr Herzschlag wummerte durch ihren Schädel wie der Bass eines Nachtclubs. Als Kind hatte sie Geschichten über Märtyrer gelesen, die unter Folter ihren Geist von ihren Körpern gelöst hatten. Sie hatten zu Allah gebetet und sich über ihr Fleisch hinweggesetzt. Im Geiste hatten sie gelacht, während ihre Peiniger sich vergeblich an den verlassenen Leibern abgemüht hatten.
Pen hatte nie an diese Geschichten geglaubt, doch jetzt, da ihr die stählernen Stacheln die Augen zuhielten, begann sie zu beten.
Über ihr pochendes Herz hinweg konnte sie Reach sprechen hören. Seit sie hier oben war, hatte er unablässig dieselben Sätze wiederholt:
»Ich bin Reach.
Ich bin Reach.
Ich werde sein.«
Pen versuchte, so zu
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