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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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irgendwo hinwandern lasse, wo Reach dir wehtun kann.«
    Beth merkte, wie sie zu zittern begann: eine Neunkommaneun auf der Großer-Gott-lass-mich-jetzt-bitte-nicht-losheulen -Skala.
    »Ich werd der ganzen Welt von dir erzählen.« Sie ließ den Rucksack von ihrer Schulter gleiten und schüttelte ihn, sodass die Spraydosen klapperten. »Ich erzähl’s einfach jedem. Wenn du mich nicht mitnimmst, sprüh ich dein Gesicht zehn Meter hoch auf jedes verdammte Gebäude östlich von Big Ben. Dann hast du keine ruhige Minute mehr. Wer immer dich sieht, wird hinter dir her sein. Die Leute werden nach dir suchen, nach den Freaks .«
    Das Wort war grausam, doch Beth war jetzt bereit zur Grausamkeit. Die Zurückweisung saß wie ein Stachel in ihrer Brust. Fil und Gossenglas konnten sie nicht einfach so abservieren; sie würde es ihnen Scheiße noch mal unmöglich machen. »Heerscharen von Leuten«, versprach sie tückisch, »Wissenschaftler und Touristen und verkackte Zoofritzen – die werden gnadenlos Jagd auf euch machen.«
    Gossenglas musterte sie mit ernstem Blick. Fil biss sich auf die Lippe und vergrub die Hände in seinen Taschen. »Das werden sie nicht, Beth«, erwiderte er und seufzte. »Versuch’s mal im Irrenhaus in der Brixton Road; frag, ob einer von denen schon mal ’ner Glühbirne auf zwei Beinen oder ’ner sprechenden Statue begegnet ist – ich garantier dir, dass du einen findest, vielleicht sogar mehrere. Überall in London sind die Notizbücher irgendwelcher Hirnakrobaten vollgestopft mit genau der Art Geschichten, die du erzählen könntest.«
    »Manche von denen sind sogar illustriert«, warf Gossenglas ein. »Es gibt bereits zahllose Bilder von mir, Miss Bradley, zehn Meter hohe und zehn Zentimeter hohe und alles dazwischen. Doch ganz gleich wie laut ein paar umnachtete arme Teufel auch schreien und auf mich zeigen, niemand sonst nimmt auch nur die geringste Notiz davon.«
    Beth zögerte. Sie schaute von einem zum andern und fühlte sich plötzlich so hilflos wie ein kleines Kind. »Wieso?«, flüsterte sie.
    Gossenglas hob die Hände, die Beth ihm zusammengesetzt hatte, so als wollte er seine Unwissenheit deutlich machen. »Es liegt nicht an uns, dass niemand auf die wenigen Menschen hört, die zulassen, dass sie uns bemerken. Die Menschen glauben an Geschichten , nicht an Fakten, und wir passen nicht in ihre Geschichten, also neigen sie dazu, nicht an uns zu glauben. Immerhin sind wir ziemlich leicht zu übersehen.«
    »Hast du denn wirklich gedacht«, sagte Fil behutsam, »unsre Existenz wär so ’ne Art Geheimnis ? Wir leben in euren Straßen, Beth, und ihr lebt in unseren – das tut ihr schon euer ganzes Leben lang.«
    Beth hatte das Gefühl, dass ihr etwas die Kehle zuschnürte. Ihr lebt in unseren Straßen. Sie erinnerte sich, wie er in jener Nacht zwischen den Laternen gehockt hatte, die Arme ausgestreckt, als wollte er das Glühen der ganzen Stadt umgreifen. »Wohnen?«, hatte er gesagt. »Mir ist jeder Quadratzentimeter Londons als Nachtlager recht. Willkommen in meiner guten Stube.«
    Das war’s, was sie wollte: keine Sicherheit, sondern ein Zuhause . Sie wollte sich am Klang dieses Worts wärmen, wollte die Stadt ihr Zuhause nennen – zu Hause sein , mit ihm, auf diesen Straßen. Mit aller Gewalt richtete sie sich auf, versteifte sich gegen das Zittern, das sie zu überfallen drohte. »Na schön«, sagte sie kalt. »Geht, wohin ihr wollt. Aber sobald ihr weg seid, marschiere ich schnurstracks nach St Paul’s. Dann knöpf ich mir Reach eben alleine vor, und wenn ich mir dafür an diesen beschissenen Kränen den Schädel einrennen muss.«
    Fil schnaubte. »Das meinst du nicht ernst.«
    » ACH NEIN ?«, brüllte Beth ihn an.
    Er trat alarmiert einen Schritt zurück, und heiße Wut stieg ihr in den Rachen wie brodelnder Teer, Wut darüber, dass man sie hier einfach zurücklassen wollte, dass es nichts gab, was sie dagegen tun konnte – und ihr wurde klar, dass sie es ernst meinte. Und ob sie sich Reach allein vorknöpfen würde, und sei’s nur, um etwas zu beweisen. Sie wusste nicht, woher der Drang kam, diesem Gassenknaben eins auszuwischen, und zwar so heftig, dass sie dafür sogar einen Selbstmord-durch-Krangott in Betracht zog – doch der Drang war unbändig.
    »Du wolltest weglaufen«, fuhr sie fort und schluckte, um den demütigenden Vormarsch der Tränen zu stoppen. »Schon vergessen? Du wolltest weglaufen, und ich hab dich dazu gebracht hierzubleiben. Sicher, ich kann vielleicht

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