Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Güterzug ihn vermöbelt hat , schoss es ihr jäh durch den Kopf. Vielleicht will er’s dir heimzahlen …
»Festhalten!« Fil hing mit einer Hand an der Schulter der Bestie, und als sie sich umdrehte und nach ihm schnappte, durchschnitten ihre Zähne die Luft, nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht. Das Metall war glatt, seine Finger fanden kaum Halt. Gleich würde er abstürzen –
Beth konnte nicht hinsehen; sie wandte den Kopf ab und starrte mit leerem Blick durch die Glasscheibe des Ladens. Leblos starrten die Schaufensterpuppen zurück, und hinter ihnen …
Hinter ihnen sah sie deutlich zwei winzige Lichtkleckse, und die wurden größer.
»Festhalten! Festhalten!«
Frumm-ratter-ratter - frumm-ratter-ratter - frumm-ratter-ratter …
Die leuchtenden Punkte hinter der Scheibe wuchsen zu Scheinwerfern, Wind peitschte Beth das Haar gegen die Stirn. Das Pfeifen wurde schrill, klang jetzt wie ein Schrei.
»Festhalten!« Fils Stimme war hektisch und zugleich triumphierend: »Festhalten!«
Das Schaufenster explodierte.
Beth duckte sich und riss schützend die Arme über den Kopf, als ein Regen aus Glassplittern auf sie niederging. Greller Schmerz flammte auf, wo sie getroffen wurde. Furchen durchpflügten schnurgerade wie Schienen die Pflastersteine – doch um sie machten sie einen Bogen. Dann rauschten Lichter vorbei, kaum zwei Finger breit neben ihrem Kopf.
Für einen Augenblick sah sie ihn, ihren Gleisgeist – aber er wirkte schemenhaft, irgendwie schwächer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Abseits der Schienen kann er nicht mehr als ein paar Minuten überleben , hatte Fil gesagt. Der Gleisgeist starb bereits. Doch Beth spähte durch seine Fenster und sah seine gespenstischen Passagiere, wie sie lasen und plauderten und SMS schrieben: jedes Gesicht wild entschlossen.
Fil sprang und schnappte sich seinen Speer aus der Luft, kurz bevor der Gleisgeist auf die leeren Augenhöhlen des Skelettwolfs zuraste.
Metall kreischte, ein, zwei Sekunden lang, dann herrschte Stille.
Beth tastete nach ihrem Ohr und fühlte Feuchtigkeit. Erst jetzt merkte sie, dass sie zitterte. Sie wollte sich auf die Knie stemmen, doch sie sackte sofort zurück. Verbogene rot glühende Stahlrohre übersäten die Gasse, Rauchschwaden stiegen auf. Der Nachhall des Schreis einer Dampfpfeife geisterte durch die Luft.
Beth kniff sich in die Zehen. Sie spürte etwas, also machte sie sich erneut ans Aufstehen, und diesmal gelang es ihr tatsächlich.
Fil lag am Fuß der Wand, gegen die er geschleudert worden war. Seine graublaue Haut war von Schnittwunden übersät, doch er setzte sich auf, ehe Beth ihn erreicht hatte. Sein Blick war glasig, seine Nase hatte einen heftigen Rechtsknick. Er grinste schief. »Glas?«, fragte er.
Beth zog die beiden Eierschalen aus der Tasche ihrer Kapuzenjacke. Die Augen des Abfallgeschöpfs waren unversehrt geblieben. Sie legte sie auf den Boden, und kaum einen Wimpernschlag später wuselten Ratten und Würmer und Käfer zwischen den Mauerresten hervor und begannen, ihren Herrn um die Schalen herum neu zusammenzusetzen.
Gossenglas konnte sich kaum aufrecht halten, Fil musste ihn stützen. »Herrje«, murmelte er. »Was für ’n Wrack.«
Sein Eierschalenblick fiel auf Beth, und sie fühlte, wie ein leichtes Schaudern sie überlief. »Hast gut drauf aufgepasst«, sagte er und deutete auf seine Augen. Eine Grimasse zuckte über sein Müllgesicht. »Filius«, murmelte er, »ich muss mit dir reden, allein.« Schwer auf Fil gestützt, humpelte er aus der Gasse.
Die Gebäude zu beiden Seiten hatte es übel erwischt: Fenster waren zertrümmert, Steine und Mauerwerk aufgerissen. Beth konnte sehen, wie Victor an der Einmündung mithilfe ihrer Taschenlampe den verbliebenen Weißhells lichtmorste. Das Antwortflackern drang bis in den hinteren Teil der Sackgasse, und Beth wurde klar, dass kaum die Hälfte der Glasmänner überlebt hatte. Der Rest war nun Staub und Brandmale auf dem Pflaster.
Beth stolperte zwischen den Trümmern des Wolfs umher. Von ihrem Zug keine Spur. Fieberhaft dachte sie nach: Wo waren die nächsten Gleise? Die U-Bahn verlief in der Nähe, am Oxford Circus kreuzten sich mehrere Linien. Ob ihr Gleisgeist es wohl rechtzeitig dorthin geschafft hatte? Bitte , flehte sie im Stillen, bitte hab’s geschafft.
Ein Hauch von Elektrizität lag in der Luft, wie der Schattenriss einer Empfindung, ein gespenstischer Rest, den der Gleisgeist zurückgelassen hatte. Es war ein Gefühl des Stolzes , der
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