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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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Dämmerzustand. Im Licht der Straßenlaternen wirkten seine Hände wie gelbsüchtig, der Raureif des Frühabends knirschte unter den Schuhen. Er sprach mit sich selbst in einem wütenden Murmeln, das sich hier und da zu angstvollem Schreien steigerte. Obdachlose beäugten ihn misstrauisch aus ihren Schlafsäcken. Die Paare, die eng aneinandergepresst an ihm vorübereilten, mussten ihn für betrunken halten, doch obwohl er durchaus versucht gewesen war, hatte er sich nichts Stärkeres als Kaffee gegönnt. Er wusste, er war nicht wahnsinnig – Wahnsinn wäre es, wenn er aufhörte , mit sich selbst zu reden, aufhörte, sich vorwärtszutreiben. Wahnsinn wäre es, sich dem beinahe unwiderstehlichen Drang zu ergeben, der von seiner Magengrube her ausstrahlte und ihn dazu bringen wollte, sich in einem Hauseingang zusammenzurollen und die Augen zu schließen, bis die Welt verging.
    »Denk nach, Bradley, denk nach «, fauchte er sich an, immer und immer wieder, » denk nach : Du kannst sie finden.« Weitergehen, Bradley, geh weiter , hallte ihm die unausgesprochene Anweisung an seine Beine durch den Schädel, und gehorsam schob er einen Fuß vor den andern.
    Nachdem das letzte Licht der glühenden Frau verschwunden war, hatte er das Trümmerfeld hinter den Gleisen verlassen, war immer weitergetaumelt, bis schließlich seine Knie versagten. An einer nach Marihuana duftenden Hauptstraße hatte er sich auf den Gehweg gesetzt, hatte dort vor einem geschlossenen Internetcafé gehockt und das Bild des Jungen mit der Eisenstange umklammert. Er hatte weder den süßen Teiggeruch aus der karibischen Bäckerei nebenan noch die Spötteleien der Kids wahrgenommen, die in ihren Kapuzenpullis und Baseballjacken an ihm vorbeistolzierten. Nur das sporadische Heulen der Polizeisirenen war zu ihm durchgedrungen, und er hatte jedes Mal einen Stich gespürt – aber was hätte er denen sagen sollen? Dass die beste Freundin seiner vermissten Tochter von einer Stacheldrahtwolke entführt worden war? Wenn sie ihn wegen Vergeudung kostbarer Beamtenzeit in eine Zelle steckten, sanken seine Chancen, diese Sache ins Lot zu bringen, auf null.
    Als das Café aufmachte, scannte er das Foto von Beths Skizze des hageren Burschen ein und postete es in sämtlichen Foren, die er finden konnte, dann, gepackt von einem panischen Gefühl der Untätigkeit, hetzte er wieder hinaus und wanderte über Londons sich ins Unendliche windende Straßen, bis er ebenso atemlos war wie verwirrt. Aber er musste weitergehen, denn das eine Mal, als er sich bloß für einen Augenblick hingesetzt hatte, um seinen schmerzenden Füßen eine Pause zu gönnen, war er eingeschlafen. In seinem Traum hatte eine sanftgesichtige Frau mit Kopftuch ihn immer und immer wieder mit seiner eigenen Stimme drängend gefragt: »Wo ist meine Tochter?« Schweißüberströmt war er aufgewacht, so kalt wie der Morgenfrost, der sein Netz über den Asphalt spannte.
    Er wusste genau, wie Parvas Eltern sich gerade fühlten, wie sie sich zu beruhigen versuchten, indem sie sich ständig aufs Neue vorbeteten: »Ich bin sicher, ihr geht’s gut.« Denn obwohl sie da keineswegs sicher sein konnten, hatten sie nicht die leiseste Ahnung, was sie tun sollten, falls es ihrer Tochter nicht gut ging. Er kannte die Symptome – er war ein Überträger. Ein vermisstes Kind zu haben war eine Krankheit, und er war einer von denen, die sie übertrugen.
    Dennoch suchte er nicht nach Parva, auch wenn ihm die Schuld an ihrem Verschwinden ätzend wie Bleiche im Magen fraß. Sein einziges Ziel war, Beth zu finden.
    Als er den Eisenwarenladen an einer Straßenecke wiedererkannte, wurde ihm klar, dass seine Füße ihn ganz automatisch in die Nähe seines Hauses getragen hatten. »Denk nach, Bradley, denk nach : Wo würde sie hingehen?« Doch er wusste es nicht; in seinem Kopf war nichts als Leere. Er wusste nicht, wo sie ihre Zeit verbrachte, wo sie aß, wo sie einkaufte; abgesehen von Parva kannte er nicht einmal ihre Freunde.
    Marianne hätte es gewusst. Ach, Liebes, wo bist du? Wohin bist du gegangen? Seit Monaten schon hatte er nicht mehr auf diese Weise im Stillen mit seiner Frau gesprochen. Sie hatte immer das Richtige zu sagen gewusst. Wenn irgendein Lehrer Beth mal wieder mit zerrissenem Shirt und blutiger Nase von der Schule nach Hause geschickt hatte, war es jedes Mal Marianne gewesen, die den langen Weg bis zu dem kleinen Zimmer im Dachgeschoss auf sich genommen und ihre Tochter zu ihnen zurückgebracht hatte. Als er

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