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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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von ihr hatte wissen wollen, was sie zu Beth gesagt habe, hatte sie lächelnd geantwortet: »Ich hab ihr den Rücken gestärkt. So wie Mütter es eben tun für ihre kleinen Mädchen.«
    Er ballte die Faust um das Foto von Beths Zeichnung des Jungen, das inzwischen völlig verknickt und schmutzig war. Zu seiner tiefen Schande war das alles, was er von seiner Tochter wusste.
    Er stolperte fast über einen Haufen Betonbruch und blieb stehen. Auf der Straße hinter ihm zischten Reifen über den Asphalt. Er setzte sich nicht, weil er fürchtete, nicht wieder auf die Beine zu kommen. Doch die Dunkelheit senkte sich über ihn wie eine erstickende Decke, und jeder weitere Schritt schien ihm unmöglich.
    Geh weiter, Bradley, geh. Doch er tat es nicht. Eine gallige, grausame Stimme in seinem Kopf sagte: Es hat keinen Zweck. Sie ist bereits tot. Du wirst ihre Leiche sehen. Du wirst ihren toten Körper sehen.
    Der Haufen aus zerbrochenen Klumpen Beton, der ihn beinah hatte stolpern lassen, lag mitten auf dem Gehweg. Es sah aus, als hätte irgendein Teen etwas daraufgekritzelt, mit schwarzer Sprühfarbe …
    Er erstarrte. Dann neigte er langsam den Kopf und ging in die Knie, um den richtigen Blickwinkel zu finden. Ganz allmählich fügten sich die scharfen Kanten des Betons mit der Farbe zu einer Gestalt:
    Das gewaltige Nashorn stürmte mit riesigen Hufen geradewegs auf ihn zu.
    Ein kaum hörbares Wimmern entfuhr ihm. Er erkannte es instinktiv, dieses Sinnbild der Gewalt und der Zerstörung, die im Alltag lauert und darauf wartet, dich aus dem Hinterhalt zu überfallen. Behutsam glättete er das Foto von dem Straßenjungen zwischen seinen Fingern. Er wagte kaum zu atmen. Dort, in den peitschenstrangdünnen Linien aus Farbe, sah er es: Das Nashorn in Beton stammte fraglos von derselben Hand.
    Es gibt noch etwas, das du weißt , dachte er. Wo immer sie ist, sie wird malen. Sie hinterließ eine Spur aus Tinte und Farbe, wie eine Fährte aus Brotkrumen.
    Geh, Bradley. Doch er ging nicht. Er rannte.

Kapitel 26
    »Gossenglas würde das nie zugeben, aber ich bin ziemlich sicher, dass meine Mutter sich für mich geschämt hat. Ach je, kein Grund, gleich so trüb aus der Wäsche zu gucken. Ich brauche kein Mitleid; ich will dir bloß was erklären, dir die Zusammenhänge begreiflich machen, damit du verstehst, warum sie getan hat, was sie getan hat.
    Sie muss am Boden zerstört gewesen sein, als ich geboren wurde, mit diesen knöchrigen Fingern, die so leicht brechen, und diesen Augen, die nur sieben Farben sehen können. Ich war so klein im Vergleich zu ihr – sie war diese Göttin, diese Stadt, und ich? Ich war ein Tränen und Scheiße verspritzendes Bündel, das in einer Tour quengelte und gefüttert werden wollte.
    Einmal habe ich Glas gefragt, ob mein Vater ein Mensch war, und auch wenn sie immer beteuert hat, sie wisse es nicht, glaube ich trotzdem, dass mein alter Herr oder wenigstens irgendwer aus seiner Ahnenreihe menschlich gewesen sein muss. Meine Schwächen waren jedenfalls angeboren.
    Schon klar, das treibt dir ’ne Träne ins Auge. Aber so war’s eben. Natürlich war ich dennoch der Sohn einer Göttin, und das brachte gewisse Privilegien mit sich. Wenn sie mich einfach ganz normal hätte aufwachsen lassen, wären meine Arme so dick wie Stahlträger geworden, und ich wäre schneller gerannt als der schnellste Zug. Bloß für das, was sie für mich im Sinn hatte, wäre das nicht genug gewesen.
    Mater Viae wollte mehr: Sie wollte, dass ich so hell erstrahle wie das Wasser der Themse an einem Sommertag. Sie wollte, dass meine Knochen die Fundamente der Stadt überdauern, und mehr noch: Sie wollte, dass ich mich ihrer würdig erwies, dass ich ihren Namen trug.
    Sie nahm mich mit in den Osten der Stadt, zu den Docks, obwohl Londons alter Hafen damals Reach gehörte. Sie ging in Lumpen gehüllt, und nur Flink, die Tapferste aus ihrem Gefolge von Katzen, war an ihrer Seite. Wenn sie vorüberkam, sehnten die Straßenschilder sich danach, sich neu anzuordnen, doch sie gebot ihnen Einhalt.
    Sie hütete die gepflasterten Wege, die von Fisch und Abwasser, Opium und knotigen Tauen übersäten Straßen, die alten Pfade – und sosehr Reach sich auch mühte, es gelang ihm nie, die Docks in ein Luxusviertel zu verwandeln. Sie blieben ihrem Geist treu, selbst als Reach sie mit seinen Hochhäusern umzingelte.
    Sie streifte an den Kanälen entlang, und die Wracks der uralten Teeklipper hoben sich aus den Tiefen, begierig darauf, noch einmal

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