Der Wüstendoktor
Katja …
Und wieder riß ihn die alte Frage auf: Laila oder Katja?
Heute morgen noch, als Karabasch ihn an der Seite Lailas weckte, war es keine Frage mehr gewesen, hatte er eine Entscheidung gefällt, war endgültig der Hakim-Pascha geboren worden, für immer, ohne einen Blick zurück – und nun zeigte sich, daß dieses ›endgültig‹ nur eine Phrase war. Es gab keine Endgültigkeiten im Leben Vanduras, weil es kein normales Leben war, kein natürlich gewachsenes, sondern ein durch Flucht konstruiertes. Und Gebäude stürzen immer ein, wenn die Erde bebt.
Hier war dieses Beben, und Vanduras Gegenwart zerfiel in Trümmer.
»Es ist eigentlich ganz einfach«, sagte Perkins, als Vandura schwieg. »Wir werden Nolet heimlich begraben, und Sie nehmen seine Stelle ein. Noch heute sollen wir in die Freiheit gefahren werden.«
»Zwischen Nolet und mir besteht wohl kaum eine Ähnlichkeit«, sagte Vandura leise.
»Auch daran haben wir gedacht. Darf ich Ihnen Monsieur Chambart vorstellen?« Einer der zwölf Männer erhob sich und machte eine leichte Verbeugung. »Chambart ist Theaterfriseur. Kein Mitglied unseres Flugzeuges – aber er stellt sich uns zur Verfügung. Eine Theatergruppe, die in Amman ein Gastspiel geben wollte, wurde von der Revolution überrascht. Jetzt sitzen die Schauspieler im Intercontinental, während Chambart, der gerade das römische Theater besichtigte, bei uns landete.«
»Und Sie glauben, daß Sie aus mir Nolet machen können?« fragte Vandura. Seine Frage war schon eine halbe Zusage – er erkannte es sofort, als er sie ausgesprochen hatte, und erschrak über sich selbst.
»Ich habe aus Jünglingen zittrige Greise gemacht und aus Großvätern Romeos. Meine Glanzleistung war, aus dem Schauspieler Braneuri so täuschend ähnlich einen de Gaulle zu machen, daß die Polizisten, als Braneuri in dieser Maske spazierenging, sofort die Straße sperrten und die sogleich alarmierte Präsidialkanzlei sich erst durch Augenschein überzeugen mußte, daß der echte De Gaulle in seinem Arbeitszimmer im Elysée-Palast saß und Zeitung las. Aus ihnen mache ich einen Nolet, so schön, wie der echte kaum gewesen war. Ich habe meinen Schminkkoffer bei mir …«
»Ihre letzte große Chance, Doktor, zurück nach Deutschland zu kommen«, sagte Pfarrer McClean eindringlich. »Greifen Sie nicht zu, werden Sie für immer ein Gefangener der Rebellen bleiben. Wollen Sie Ihr Leben in der Wüste vertrocknen lassen? Gut, Sie sind Arzt, und kranke Menschen gibt es überall und besonders hier in diesen schrecklichen Gebieten, man braucht Sie, und Sie wären so etwas wie die Rettung dieser Menschen … Jeder ist des anderen Bruder – ich predige es immer von der Kanzel, gewiß –, aber da taucht eine andere Frage auf: Sind Sie für dieses Leben in der Wüste geboren? Ich habe mich mit Ihnen beschäftigt, die Reporter unten kennen Ihren Weg genau – ein neues Verfahren gegen die Arterienverkalkung, das war Ihre Forschung. Damit können Sie Millionen das Leben verlängern und erträglicher werden lassen, viel Leid des Alters können Sie aufhalten – hier dagegen sind Sie der Arzt einer Rebellentruppe, flicken Körper zusammen, die man aus Fanatismus oder vielleicht auch gerechter Sozialrevolution zusammenschießt, auf jeden Fall sind Sie der Hakim-Pascha einer kleinen Menschengruppe. Ich frage Sie: Was wiegt mehr? Ihre Forschung, die der ganzen Menschheit nützt – oder Kriegschirurg bei Rebellen? Es heißt bei euch Ärzten immer: Im Namen der Medizin … Und wir Pfarrer sagen immer: Ich rufe dich in Seinem Namen. Also – ich rufe Sie im Namen der Medizin, Doktor.«
Vandura sah von einem zum anderen. Dann blickt er auf den zugedeckten Körper des toten Nolet. Er dachte an Laila und ihre wie die Wüstensonne glühende Liebe, an Katjas sanfte Zärtlichkeit, an sein Labor und seine Forschung, die erst im Anfangsstadium war, er dachte daran, ein freier Mann zu sein, rehabilitiert von allem Verdacht, ein Mörder zu sein, und er dachte plötzlich auch daran, daß Laila gestern mitleidslos Katja in die Linien des Krieges gehetzt hatte, in der Hoffnung, daß irgend jemand sie erschoß und damit aus dem Leben Vanduras entfernte. Das war ein Mord, und sie war stolz darauf, als sie ihn erzählte. Sie empfand es als eine Heldentat.
Welch eine andere Welt, dachte Vandura. Eine große, erschreckende Nüchternheit überfiel ihn. Es war fast, als fröre er … mit einem Griff zog er die Dschellaba über der Brust
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