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Der wunderbare Massenselbstmord

Titel: Der wunderbare Massenselbstmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arto Paasilinna
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Marderhund ins Haus zu bringen. Aber das Tier war verschwunden, der Käfig ebenfalls. Rellonen er­ schrak, hatten sie den Marderhund in Toijala vergessen? Der Oberst beruhigte seinen Gefährten und sagte, er selbst habe den Käfig auf den Eingangsstufen vor der Kirche von Lampi abgestellt. Dort würde das Tier ganz sicher am Morgen gefunden, und über sein Schicksal entschieden vermutlich Personen, die auf der Gehaltsli­ ste der Kirchgemeinde standen. Das Leben des Marder­ hundes lag somit in den Händen eines Höheren, zumin­ dest, wenn der Pastor ihn als Erster fände.
    Als Helena Puusaari die gewaltige Menge Briefe sah, rief sie:
    »Oh, ihr Armen! Hier dürfen wir jetzt keine Zeit verlie­ ren. Lasst uns zeitig aufstehen und ans Werk gehen.«
    Helena Puusaari wurde in der Dachkammer des Sommerhauses untergebracht. Nachdem sie sich schla­ fen gelegt hatte, sahen die Männer einander an:
    »Das ist mal ein resoluter Mensch!« 6
    Als sie ausgeschlafen hatten, machten sie sich an die Arbeit. Sie beschlossen, jeden Brief einzeln zu studieren, indem sie ihn laut vorlasen. Einer las immer zehn Briefe hintereinander, während sich die anderen Notizen machten. Dann wurde der Vorleser gewechselt, wieder wurden zehn Briefe bearbeitet, und der dritte Vorleser kam an die Reihe. So kamen sie zügig voran, und nie­ mand fühlte sich überfordert.
    Die Behandlung eines Briefes nahm etwa fünf Minu­ ten in Anspruch. Das eigentliche Lesen dauerte ein, zwei Minuten, dann wurde noch ein paar Minuten über den Fall diskutiert. Innerhalb einer Stunde schafften sie etwa ein Dutzend Briefe. Gearbeitet wurde im Zweistun­ dentakt mit jeweils einer halben Stunde Pause dazwi­ schen. Das Lesen und Analysieren der Briefe war eine so schwere Arbeit, dass sie von einem schnelleren Tempo absahen.
    Hinter jedem Brief stand ein Mensch, der in Not war, und die Not war nicht gering. Die drei Leser hatten persönliche Erfahrungen damit.
    Frauen schienen in ihrer Verzweiflung eher bereit, sich jemandem anzuvertrauen, und sei es nur einer Chiffre-Adresse. Die drei Bearbeiter zählten, dass fünf­ undsechzig Prozent der Zuschriften von Frauen stamm­ ten, der Rest von Männern. Bei einigen blieb das Ge­ schlecht unklar, zum Beispiel eine Person namens Ama Laurila konnte ein Mann oder eine Frau sein. Ein gewis­ ser Raimo Taavitsainen vermittelte in seinem Brief den Eindruck, dass er eine Frau sei, daraus zu schließen, dass er als seinen Beruf Gattin angab. Er hatte aller­ dings auch noch andere Probleme. Wer hatte die nicht.
    Ein beträchtlicher Teil der Leute, wenn nicht sogar alle, hatte psychische Probleme. Manche waren an­ scheinend regelrecht verrückt. Einige hatten eine Psy­ chose, bei anderen zeigten sich paranoide Züge – zum
    Beispiel bei einer Putzfrau aus Lauritsala, die behaupte­ te, deshalb kurz vor dem Selbstmord zu stehen, weil Präsident Koivisto sie ständig verfolgte. Die Verfolgung geschah auf komplizierte Weise: Koivisto schickte ihr auf geheimen Wegen giftige Reinigungsmittel, und nur durch größte Aufmerksamkeit war es dem Opfer gelun­ gen, diesen Anschlägen zu entgehen. In letzter Zeit war der Präsident immer kühner geworden, er ließ der un­ glücklichen Frau Tag und Nacht keine Ruhe. Seine Kanzleichefs und Sicherheitsleute unternahmen gehei­ me Reisen nach Lauritsala und machten ihr auf vielerlei Weise das Leben schwer. Schließlich war sie zu der patriotischen Entscheidung gelangt, dass sie nur durch ihren Selbstmord das Land retten konnte. Dann wäre Koivisto gezwungen, von ihr abzulassen. Sie würde sich opfern und hoffte, dass dann niemand Handhabe hätte, einen Atomkrieg gegen Finnland zu beginnen. Unter gegenwärtigen Bedingungen konnte der Krieg jeden Tag ausbrechen.
    Viele Briefschreiber klagten über Neurosen. Es gab auch eindeutige Persönlichkeitsstörungen, ebenso Gei­ steskrankheiten, die das Liebes- und Familienleben beeinträchtigten. Verzweifelte Strafgefangene und Pati­ enten von Nervenkliniken fanden sich unter den Absen­ dern. Weit verbreitet waren Schwierigkeiten im Berufs­ leben oder im Studium. Für manche war das deprimie­ rende Alter zu früh gekommen. Einer der Absender berichtete, dass er vor dem Krieg einen richtigen Mord begangen habe und diesen immer noch nicht vergessen könne. Andere waren unrettbar dem Glauben verfallen und wollten mit ihrem Selbstmord schneller den Eintritt in den Himmel und die Begegnung mit dem Allmächti­ gen herbeiführen. Zahlreich waren auch

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