Der wunderbare Massenselbstmord
die sexuellen Eigenheiten, es gab Homosexuelle, Transvestiten, Maso chisten, verklemmte Entblößer, unverbesserliche Nym phomaninnen.
Viele litten unter einem fortgeschrittenen Alkoholis mus, andere waren von Medikamenten oder Drogen abhängig. Ein Mann, der im Stadtzentrum von Helsinki wohnte und bei einer Importfirma für digitale Kompo nenten arbeitete, war zu dem Schluss gekommen, dass Selbstmord die einzige effektive Weise sei, sein eigenes Leben zu beherrschen. Ein anderer schrieb, dass er sich mit mystischen Dingen beschäftige und so neugierig sei, dass er den natürlichen Tod nicht abwarten könne, sondern Selbstmord begehen wolle, um zu sehen, was ihn nach dem Tod erwarte.
Fast allen gemeinsam war das starke Gefühl von Ein samkeit und Verlassenheit. Dieses Gefühl war auch den Bearbeitern der Briefe vertraut.
In den Pausen gingen sie stets nach draußen auf den Bootssteg, um ihre Nerven zu beruhigen und sich zu sonnen. Rellonen machte belegte Brote zurecht, und der Oberst kochte Kaffee. Auf dem See schrie ein Prachttau cher, ein seltener Vogel in Südfinnland. Sein Schrei klang wie die letzte Klage eines Selbstmörders.
Eines Nachmittags entdeckte Helena Puusaari am Ufer eine angeschwemmte Flasche. Sie machte ein ziemliches Theater, rief, dass sie Alkoholiker verab scheue, die ihre Flaschen in die Gegend schmissen und mit ihrem Unrat die saubere finnische Natur verun reinigten. Sie selbst trinke auch gelegentlich Alkohol, aber ihr werde nie einfallen, die Flaschen draußen weg zuwerfen.
Der Oberst ging hin, um die Flasche aus dem Ufer sand zu klauben. Es war guter schottischer Malzwhisky, ein zwölf Jahre alter Cardhu. Die Flasche enthielt min destens noch fünf tüchtige Schluck, die schnell getrun ken waren. Von den Drinks beflügelt, erzählten die Männer Helena Puusaari vom besonderen Charakter des Humalajärvi, des Hopfensees. Vielleicht hatte der Name, den man dem See einst gegeben hatte, seinen Teil dazu beigetragen, dass die Anwohner ihre speziellen Gewohn heiten entwickelt hatten.
Die Bearbeitung der Briefflut beanspruchte zwei ganze Tage. Erst dann waren jeder Brief und jede Karte gele sen und besprochen sowie wichtige Notizen dazu nieder geschrieben worden.
Das Material hatte die drei Leser erschüttert, sie wa ren zu der Überzeugung gelangt, dass sie gewisserma ßen die Verantwortung für das Leben von sechshundert Menschen trugen. Womöglich hatten inzwischen schon einige Schluss gemacht? Seit der Veröffentlichung der Annonce waren immerhin zehn Tage vergangen, Zeit genug für einen deprimierten Menschen, dies und jenes zu tun.
Helena Puusaari rief in der Volkshochschulzentrale in Hämeenlinna an und bat um Freistellung. Sie müsse ein Schreiben sechshundertmal kopieren und dieselbe Anzahl Briefumschläge mit Adressen beschriften. Ob sie zu dem Zweck vielleicht den Kopierer der Volkshoch schule benutzen dürfte? Sie bekam die Zusage. Nun musste erst mal der Brief verfasst werden, ehe man ihn vervielfältigen und an die selbstmordgefährdeten Men schen im ganzen Land schicken konnte.
Helena Puusaari war eine geübtere Briefeschreiberin als Rellonen und Kemppainen. Sie entwarf ein tröstli ches Schreiben, das etwa eine Seite umfasste und in dem sie den selbstmordgefährdeten Empfänger auffor derte, seinen Entschluss zumindest vorerst hinauszu schieben. Sie erklärte, dass Tausende Finnen sich mit derselben Absicht trugen. Und sie verriet auch, dass mehr als sechshundert Personen auf die Annonce ge antwortet hatten. Es sei besser, nichts zu überstürzen, in einer so lebenswichtigen Angelegenheit keine Eile an den Tag zu legen.
Oberst Kemppainen fügte noch hinzu, dass ein ge meinschaftlich inszenierter Selbstmord möglicherweise qualifizierter realisiert werden könnte als ein allein durchgeführter, dilettantischer. Er wies auf die Wirk samkeit der gebündelten Kräfte hin, die auch auf diesem Gebiet galt. Onni Rellonen dachte an den ökonomischen Nutzen einer Gemeinschaftsaktion. Er fügte dem Brief noch einen Zusatz hinzu über gemeinsame Erholungs reisen vor dem Tod und über die Chance, bei einem Selbstmord in größerer Gruppe für die Kosten, die den Angehörigen entstanden, Rabatt zu bekommen. Ge meinsam feilten sie noch mehrere Stunden an dem Text, bis sie meinten, dass er in jeder Form genügte und nun vervielfältigt werden konnte.
»Ich finde, wir sollten gleichzeitig ein Seminar einbe rufen, auf dem wir über
Weitere Kostenlose Bücher