Der wundersame Fall des Uhrwerkmanns: Roman (German Edition)
Burton! Aber ich werde von Ihnen weit mehr bekommen, als Sie von mir erlangen können. Ich befinde mich bereits tief in Ihren Erinnerungen. Ich sehe den armen Lieutenant Stroyan. Sie haben ihn umgebracht. Wie rücksichtslos von Ihnen!«
Immer noch schätzte ihn die eitle Hexe falsch ein, und während sie ihre Klauen in seine schmerzlichsten Erinnerungen schlug, gab sie gleichzeitig mehr von sich preis, als ihr bewusst war. Burton fühlte, wie sich ein schillerndes Gefühl von Triumph in der Frau ausbreitete. Sie aalte sich in der Tatsache, dass die Arbeiterschaft Großbritanniens dem Zauber ihrer großen Täuschung erlag und bereitwillig die Geschichte vom verlorenen Adeligen schluckte, der in seine Heimat zurückgekehrt und von der Gesellschaft geächtet worden war, nur weil er als Bürgerlicher gearbeitet hatte. Es war das perfekte Mittel, um die schlummernde Leidenschaft der Menschen zu wecken.
Wie wertvoll die Tichbornes gewesen waren! Ihr falscher verlorener Sohn hatte ihr nicht nur die Möglichkeit beschert, ihren bösen Einfluss über den arbeitenden Pöbel auszubreiten, sondern ihr auch den südamerikanischen Diamanten in die Hände gespielt.
Burton sammelte weiter Informationen und kämpfte verzweifelt darum, ihrem Spott zu widerstehen. Er dachte an den Mut seines Freundes zurück und dachte in ihre Richtung: Stroyan ist so gestorben, wie er es gewollt hätte – als tapferer Mann in Erfüllung seiner Pflicht.
»Unsinn! Sie haben ihn getötet. Die Schuldgefühle fressen Sie auf!«
Erneut versuchte er, sie dazu zu bringen, mehr preiszugeben, indem er sie überraschte.
Sagen Sie, Madam, wo haben Sie von den Nāga-Augen erfahren?
Er konnte fühlen, wie die Frage sie ins Wanken brachte.
» Dorogoi!« , stieß sie wütend hervor. »Sie wissen zu viel!«
Diesmal jedoch schlich sich keine versehentliche Antwort inihre Gedanken. Stattdessen entdeckte Burton eine unüberwindbare Barriere, als wäre ein Teil der Frau …
Er konnte nicht definieren, was er spürte.
»Wie ich von den Augen erfahren habe, ist belanglos. Alles, was zählt, ist, dass ich sie benutze, um den Geist der Armen und der Geknechteten zu öffnen. Haben Sie gesehen, wie ich ihnen die Scheuklappen von den Augen nehme?«
Burton lachte spöttisch auf. Sie sprechen, als erwiesen Sie der Gesellschaft so etwas wie einen Dienst, aber das ist nicht Ihre eigentliche Absicht, oder? Sagen Sie mir die Wahrheit. Was hoffen Sie, zu erreichen?
»Revolution.«
Sie wollen das britische Empire stürzen?
»Ich will es vernichten.«
Warum?
»Weil ich eine Seherin bin, malchik moi. Ich habe meinen Geist in die Zukunft entsandt, und ich kenne das Schicksal meines geliebten Landes. Ich habe mit angesehen, wie Mütterchen Russland in die Knie gezwungen wird. Ich habe mit angesehen, wie meine Heimat verwelkt und stirbt!«
Was zur Hölle hat das mit Großbritannien zu tun?, fragte sich Burton.
»Alles! Sieh, was ich gesehen habe!«
Weißglühender Schmerz schoss sengend durch Burtons Kopf. Er brüllte vor Qualen, als die hellseherische Vision der Frau sein Gehirn flutete – zu viele Informationen jagten zu schnell durch den Kanal, der ihre Geister miteinander verband, überwältigten seine Sinne, verrieten ihm weit mehr, als sie beabsichtigt hatte, und trieben ihn beinahe in die Benommenheit.
Geistig ebenso gelähmt wie körperlich beobachtete er hilflos, wie sich ihre Prophezeiung langsam vor seinem inneren Auge entfaltete.
*
Blut.
Licht.
Ein erster Geschmack von Luft.
Ein Kind wird in Russland geboren, der Sohn von Bauern.
Grigori Jefimowitsch Rasputin.
Er ist mit hellseherischen Kräften gesegnet – oder vielleicht verflucht.
Seine Kindheit verläuft unglücklich. Jeder weiß, dass etwas an ihm anders – seltsam – ist. Er wird gemieden. Nur seine Geschwister schenken ihm die Aufmerksamkeit, nach der er sich sehnt. Er vergöttert sie. Dann ertrinkt seine geliebte Schwester in einem Fluss, und sein vor demselben Schicksal erretteter Bruder wird von einer Lungenentzündung dahingerafft.
Rasputin weiß, dass eines Tages auch er im Wasser sterben wird. Das Wissen ängstigt ihn – zerrüttet ihn. Er wird unberechenbar und gewalttätig. Seine Eltern verbannen ihn in ein Kloster tief im Ural, ohne zu wissen, dass die Einrichtung von der verbotenen Sekte der Chlysten übernommen worden ist – religiöse Fanatiker, deren orgiastische Rituale in körperlicher Erschöpfung und für Rasputin in ekstatischen medialen Halluzinationen
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