Der Wunsch des Re
Warum sollte er sich da noch über den Osiris-Hohepriester ärgern?
Er grinste selbstzufrieden, und beleidigt schaute Bintanat ihn von der Seite an.
»Was weißt du denn schon?«, giftete sie. »Und wenn, das geht dich überhaupt nichts an. Ich bin noch jung und will geliebt werden ... im Gegensatz zu dir. Du bist doch gar nicht mehr imstande, dich fest zu binden. Dir geht es nur um dein Vergnügen.«
Sethi lachte. »Dir etwa nicht?«
»Lass mich in Ruhe!« Beleidigt wandte sich Bintanat von ihrem Onkel ab.
Abydos war bereits in Sichtweite und mit der Stadt der Tempel des Osiris, vor dessen Toren die Mysterienspiele abgehalten werden würden. Das Volk durfte ihnen beiwohnen, während im Inneren des Heiligtums geheime Riten zelebriert wurden, die nicht für die Augen und Ohren gewöhnlicher Menschen bestimmt waren.
Nachdem die Barke angelegt und Ramses die Huldigung seiner Untertanen entgegengenommen hatte, begab sich das kleine Gefolge mit dem Herrscher und dem Hohepriester an der Spitze zum Heiligtum, während die anderen Schiffe Richtung Süden den Blicken entschwanden.
»Wie gehen die Arbeiten voran?«, erkundigte sich Ramses leise bei Amunhotep.
»Es gibt keinerlei Probleme, Majestät.«
»Das freut mich zu hören. Und wie macht sich Meritusir in ihrem neuen Amt als Priesterin?«
»Ihre Ausbildung schreitet sehr gut voran. Inzwischen vertritt sie mich, wenn ich mich nicht um die anstehenden Arbeiten kümmern kann.«
»Auch das freut mich zu hören.«
Ramses lächelte zufrieden, während Amunhotep dachte, dass der König das sicher nicht behauptet hätte, hätte er gewusst, dass seine einzige Osiris-Priesterin ab und an einen Dickschädel besaß und ihren Willen durchzusetzen versuchte. Er musste zwar zugeben, dass sie sich in der vergangenen Zeit zusammengerissen hatte; dennoch war ihr Temperament am heutigen Morgen wieder einmal mit ihr durchgegangen.
»Ich darf doch dabei sein, wenn die geheimen Riten abgehalten werden«, hatte sie zu ihm gesagt. Es war keine Frage gewesen, denn mehr eine Feststellung, die ein Nein gar nicht erst in Betracht gezogen hatte.
»Du bist noch nicht reif dafür und wirst dich noch ein wenig gedulden müssen«, hatte er geantwortet.
Beleidigt hatte Meritusir nach dem Warum gefragt und begründend hinzugefügt: »Immerhin darf ich in den heiligen Bereich des Tempels hinein, auch wenn ich bei den Prozessionen in hinterster Reihe stehe und weder etwas sehen kann noch etwas von den Riten mitbekomme. Dennoch bin ich befugt, dem Gott gegenüberzutreten.«
Er hatte sich nicht umstimmen lassen.
Sie hatte ihm daraufhin erzählt, dass sie alles über die Legende von Osiris gelesen habe, und hatte begonnen, mit ihrem Wissen zu prahlen. Als sie schließlich geendet hatte, hatte er nur belustigt gelächelt.
»In der Tat, Meritusir, du scheinst über alles unterrichtet zu sein, über das man unterrichtet sein muss. Aber all dein Wissen ist jenes, welches dem Volk vor den Tempeltoren von wandernden Schauspieltruppen geboten wird.« Sein Lachen hatte einen hämischen Unterton angenommen. »Also erlaube ich dir, dass du dir dieses Spektakel ansehen darfst, denn über die geheimen Riten weißt du überhaupt nicht Bescheid. Wie ich bereits sagte, du bist noch lange nicht so weit, als dass du daran teilnehmen dürftest.« Er hatte sich umgedreht und Meritusir einfach stehen lassen.
Das Gefolge hatte das Heiligtum erreicht.
Ramses zog es dieses Mal vor, sich als Erstes in seine Gemächer zu begeben, bevor er der Statue des Gottes auf dem Vorhof gegenübertrat.
Amunhotep wandte sich in der Zwischenzeit seinen Verwaltungsaufgaben zu, bis es Zeit wurde, das vorletzte der vier täglichen Rituale für den Gott zu zelebrieren.
* * *
Am kommenden Morgen fand sich Meritusir zusammen mit einigen anderen Wab-Priestern vor dem Tempel ein, um bei der Aufführung des ihr bekannten Mythos dabei zu sein.
So weit das Auge reichte, waren Menschen herbeigeströmt, um das alljährliche Schauspiel zu verfolgen. Überall hatten Händler ihre Stände aufgebaut und boten Leckereien feil, obwohl das nicht vonnöten war, da der Osiris-Tempel während der dreitägigen Festlichkeit für die Beköstigung der Menschen sorgte.
In der dritten Stunde des Tages traten mehrere Männer in das Rund. Sie waren festlich gekleidet und hielten Weinkelche in der Hand. Ein als Osiris gewandeter Schauspieler saß derweil auf seinem Thron vor dem Zugang zum Tempel und beobachtete lächelnd die Szene. Es wurde
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