Der Wunsch des Re
fröhlich gefeiert, bis ein hölzerner Sarkophag in die Mitte des Runds getragen wurde.
Seth erhob sich daraufhin von seinem Stuhl und verkündete: »Demjenigen soll dieser wundervolle Sarg gehören, der hineinpassen wird. Nur zu, mein Freunde, legt euch hinein.«
Übermütig scherzend kamen alle Anwesenden seiner Aufforderung nach. Keiner hatte jedoch die entsprechenden Körpermaße. Die einen waren zu klein oder zu dick, die anderen wiederum zu groß oder zu dünn. Einzig der als Osiris verkleidete Akteur passte perfekt in das wundervolle Grabmobiliar. Kaum hatte er sich in die Sargwanne gelegt, stürmten Seths Gefolgsleute hinzu und schlossen den Deckel.
Ein entsetztes Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer, und so mancher hielt sich bestürzt die Hände vors Gesicht.
»Brudermörder!«, wehte ein ums andere Mal ein empörter Ruf über den Vorplatz; dann verfolgten wieder alle gespannt das Schauspiel.
Nachdem der Sarkophag verschlossen und versiegelt worden war, warfen Seths Leute ihn in den Fluss, der durch blau gefärbte Tücher imitiert wurde. Die Unholde liefen wild lachend und feiernd von dannen, während eine junge Frau, die Göttin Isis, weinend den Festsaal betrat und nach ihrem Brudergemahl absuchte. Sie ging auch hinunter an den Fluss, wo ihr ein Fischer erzählte, was vorgefallen war. Weinend brach Isis am Ufer zusammen.
Auch aus den Reihen der Zuschauer kamen Klagelaute.
Verwundert blickte Meritusir sich um und konnte sehen, dass so manches Gesicht feucht von Tränen war.
Es geht den Menschen wirklich nahe, dachte sie bestürzt, und es wurde ihr bewusst, wie tief der Götterglaube in den Menschen dieser Zeit verankert war.
Der erste Akt endete damit, dass Isis entlang des Flusses schritt, bis sie den Sarg mit ihrem toten Brudergemahl fand. Sie öffnete den Deckel und setzte sich rittlings auf das erigierte Glied ihres getöteten Mannes, was von den Zuschauern mit Jubelrufen bedacht wurde. Dann war Teil eins der Geschichte vorbei, und die Leute zerstreuten sich.
Es dauerte fast eine Stunde, bis das Schauspiel weiterging. Die Menschen nutzten die Zeit, um etwas zu essen und zu trinken, um den Priestern ihre Geschenke für den Gott zu übergeben oder Amulette und andere rituelle Gegenstände zu erwerben.
Meritusir blieb da, wo sie war. Zwar knurrte ihr ebenfalls der Magen, doch sie war nicht bereit, ihren überaus guten Platz zu verlassen. Sie hatte es sich gegenüber dem Tempel bequem gemacht und wartete ungeduldig darauf, dass es weiterging.
Als die Aufführung endlich von Neuem begann, herrschte absolute Ruhe. Gespannt blickten Hunderte Augenpaare in das Rund, das mit Papyrusstauden in sandgefüllten Kübeln dekoriert worden war. In seinem Mittelpunkt kauerte Isis mit hochschwangerem Leib auf Gebärziegeln und brachte ihren Sohn Horus zur Welt. Neben ihr stand der geöffnete Sarg mit dem toten Osiris.
Kurz darauf tauchten Seths Gefolgsleute wieder auf. Isis konnte sich noch rechtzeitig mit ihrem Kind verstecken, während Seth eigenhändig die Leiche des Osiris zerstückelte und die Einzelteile über die Beiden Länder verteilte.
Entsetzte Rufe wehten über den Vorplatz des Tempels.
Meritusir hingegen musste anerkennend zugeben, dass die Szene des Zerstückelns sehr getreu wiedergegeben worden war. Anscheinend hatten die Schauspieler eine menschenähnliche Figur aus Nilschlamm und Stroh hergestellt, der Seth mit seiner Axt die Gliedmaßen abhauen konnte.
Nachdem die Bösewichte verschwunden waren, kam Isis aus ihrem Versteck heraus und traf mit ihrer Schwester Nephthys zusammen. Gemeinsam begaben sie sich auf die Suche nach den Gliedern des Osiris. Sie fanden alle Teile bis auf den Penis, der in den Fluss gefallen und von einem Fisch gefressen worden war. Sie jammerten und klagten, bis ein dunkelhäutiger Akteur mit dem Schakalkopf des Anubis in das Rund trat, die Glieder wieder zusammenfügte und in Binden wickelte – die erste Mumifizierung, die seitdem ein fester Bestandteil des Totenkults war.
Lauter Jubel brandete auf, als die Mumie des Osiris fertig war. Die Zuschauer sangen und klatschten begeistert in die Hände. Ihre Freude kannte kein Ende, als ein weiterer Darsteller in Gestalt des ibisköpfigen Gottes Thot erschien, um der Mumie Leben einzuhauchen. Immer mehr Göttergestalten traten in das Rund und bestimmten, dass fortan Osiris über das Reich der Toten herrschen sollte und sein Sohn Horus über das der Lebenden.
Damit war auch der zweite Akt vorbei, und es dauerte
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