Der Wunschtraummann
ich wie hypnotisiert auf das Bild und quäle mich mit allen möglichen unschönen Gedanken, bis ich mich schließlich mühsam zusammenreiße.
Himmel, das ist wirklich lächerlich. Ich muss ihn endlich vergessen.
Einem spontanen Impuls folgend drücke ich auf Löschen. Ein kleines Kästchen erscheint: »Bist du sicher, dass du Sebastian Fielding von deiner Freundesliste entfernen möchtest?« Und ehe ich es mir noch mal anders überlegen kann, klicke ich auf Bestätigen, und das Foto verschwindet.
Er ist weg. Einfach so.
Ein paar Sekunden gucke ich verdattert auf den leeren Fleck, wo er eben noch war, dann wende ich mich abrupt wieder meiner Arbeit zu und löse einen der Klebezettel von meinem Monitor.
Könnte ich ihn doch bloß so leicht aus meinem Herzen löschen.
Zweites Kapitel
Um vier Uhr nachmittags erklärt Sir Richard das Büro offiziell für geschlossen und scheucht mich nach Hause. »Sie gehen doch sicher heute Abend auf eine Party, oder etwa nicht?«, trompetet er gutmütig und streicht mit der Hand eine verirrte Haarsträhne glatt, die herumflattert wie ein rastloser Vogel, der jederzeit auffliegen könnte. Leider ja, bin ich versucht zu antworten. Tue ich aber natürlich nicht. Deprimiert sein ist eine Sache. Dem Chef auf die Nase zu binden, dass man vor Liebeskummer nur noch ein Schatten seiner selbst ist und sich am liebsten zu Hause unter der Bettdecke verkriechen würde, bis das Jahr endlich vorüber ist, ginge aber dann doch zu weit.
»Ähm … ja«, entgegne ich, weiche seinem Blick aus und fahre meinen Rechner herunter. Dann stehe ich auf und schnappe mir meinen Mantel, den ich über die Stuhllehne gehängt habe.
»Ach, was gäbe ich darum, noch mal jung, frei und unbeschwert zu sein«, seufzt Sir Richard wehmütig. Etwas schwerfällig hockt er sich auf die Schreibtischkante, verschränkt die Arme und schaut mich mit einem sehnsuchtsvoll abwesenden Blick an.
Ich ringe mir ein Lächeln ab. In meinen dicken Daunenmantel gehüllt und in Gedanken bei Seb und der drohend bevorstehenden Silvesterparty, würden mir viele Worte einfallen, um meinen Seelenzustand zu beschreiben, aber unbeschwert gehört wirklich nicht dazu.
»Ich weiß noch, als ich in Ihrem Alter war, was habe ich da an Silvester nicht alles angestellt …« Ein Glucksen beendet den halbfertigen Satz. »Wissen Sie, dass ich einmal verhaftet wurde, weil ich am Trafalgar Square im Brunnen getanzt habe?«
»Wirklich?« Mein Blick fällt auf den schlecht sitzenden Anzug meines Chefs, die dicke Brille, die ihm auf die Spitze der geröteten Nase gerutscht ist, und die soliden abgewetzten braunen Schnürschuhe, die aussehen, als wären sie mindestens hundert Jahre alt. Schwer vorstellbar.
»Wirklich«, versichert er mit einem Nicken und unverhohlenem Stolz in der Stimme. »Ich war sozusagen ein Flitzer.«
»Wirklich?« Meine Stimme klingt plötzlich hoch und schrill, und unvermittelt habe ich das Bild von Sir Richard vor Augen, wie er durch einen Brunnen flitzt. Splitterfasernackt .
Arrrgh. Nein. Verzweifelt versuche ich, den Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben.
»Aber ja«, sagt er und nickt ernst. »In meiner Jugend war ich ein echter Draufgänger.«
Ich weiß zwar nicht, wo genau dieser kleine Ausflug in die Vergangenheit enden soll, aber eigentlich will ich es auch gar nicht wissen.
»Tja dann, auf Wiedersehen«, sage ich knapp und ziehe mir die pelzbesetzte Kapuze über die Ohren, als wolle ich sie so vor weiteren Nacktflitzergeschichten schützen. »Frohes neues Jahr!«
»O ja, genau, genau«, meint er heftig, schreckt aus seinen seligen Erinnerungen an die guten alten Zeiten auf und schiebt die Brille auf der Nase nach oben. Einen Augenblick bleibt er auf der Tischkante hocken, und da erst fällt mir auf, dass sein Anzug etwas zerknitterter aussieht als sonst und er sich, wenn mich nicht alles täuscht, heute Morgen nicht rasiert hat. »Tja dann, frohes neues Jahr, Tess«, sagt er und verwandelt sich wieder in meinen Chef. Er richtet sich auf und steckt die Hände tief in die Taschen. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
»Ihnen auch«, entgegne ich. Er sieht irgendwie mitleiderregend aus, wie er so neben meinem eingetopften Fensterblatt steht, ganz allein im leeren Büro, und auf einmal kommt mir ein Gedanke: Wenn ich ins Büro geflüchtet bin, vielleicht geht es Sir Richard dann genauso? Und wenn ja, wovor er wohl geflüchtet sein mag?
Aber der Gedanke erscheint mir einfach zu abwegig, also verwerfe ich
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