Der Zauber deiner Lippen
das sie von früher her kannte und lange nicht gehabt hatte? Oder verloren hatte? Oder war es etwas, das sie nie gehabt, wonach sie sich aber immer gesehnt hatte?
Egal, das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie war endlich am Ziel. Leidenschaftlich drängte sie sich an ihn, schloss die Augen und wollte ihn küssen. Doch ganz plötzlich ließ er sie los, und verwirrt und ernüchtert sank sie zurück auf das Bett. Was war los? Wo war er? Hatte sie sich das alles nur eingebildet? War das typisch für Menschen, die aus dem Koma erwachten?
Wieder traten ihr die Tränen in die Augen. Suchend sah sie sich um. Wo war er? Da, er stand direkt neben ihrem Bett, mit der gleichen Haltung wie vorher. Doch auch durch den Tränenschleier konnte sie erkennen, dass etwas anders war. Er war nicht mehr der schützende Erzengel, dem sie sich anvertrauen konnte, sondern wirkte kalt und unnahbar, als er leicht missbilligend auf sie herabsah.
Ein Gefühl, das sie nur allzu gut kannte, überfiel sie. Niedergeschlagenheit. Mutlos ließ sie den Kopf sinken. Was sie noch vor wenigen Sekunden in seinen Augen zu lesen gemeint hatte, was sie an Wärme und Fürsorge zu spüren geglaubt hatte, hatte sie sich offensichtlich nur eingebildet. Weil sie es hatte sehen und fühlen wollen , war sie dieser Illusion aufgesessen. Wahrscheinlich war auch das eine Nachwirkung des Komas.
„Gut, Sie können den Kopf bewegen“, hörte sie erneut die tiefe kalte Stimme. „Können Sie sich auch sonst bewegen? Haben Sie Schmerzen? Zwinkern Sie, wenn Sie das Sprechen zu sehr anstrengt. Einmal für Ja, zweimal für Nein.“
Das Herz wurde ihr schwer, und sie hatte Schwierigkeiten, die Tränen zurückzuhalten. Jetzt bloß nicht heulen! Denn das waren ganz normale Fragen, wie sie jedem gestellt wurden, der eine Zeit lang bewusstlos gewesen war. Mit persönlichem Engagement hatten sie überhaupt nichts zu tun, sondern nur mit dem professionellen Interesse des Arztes.
„Cybele! Nicht wieder wegdämmern! Machen Sie die Augen auf, und beantworten Sie meine Fragen!“
Bei dem harten Ton fuhr sie innerlich zusammen und beeilte sich zu antworten: „Ich … Ich kann nicht …“
Er holte tief Luft und sah drohend auf sie herunter, dann atmete er frustriert aus. „Okay, dann beantworten Sie nur kurz meine Fragen. Danach können Sie sich ausruhen.“
„Ich fühle mich noch irgendwie … betäubt, bin ganz benommen.“ Sie schwieg und versuchte, mit den Zehen zu wackeln. Es klappte. Das bedeutete ja wohl, dass die Nervenleitungen intakt waren. „Motorisch ist wohl alles in Ordnung. Schmerzen? Kann ich nicht sagen. Ist eher so, als sei ich unter eine Dampfwalze geraten. Aber gebrochen … wohl nichts.“
Kaum hatte sie das gesagt, spürte sie einen starken, beißenden Schmerz in ihrem linken Arm. Sie schrie auf. „Mein Arm!“
Obwohl sie hätte schwören können, dass der Arzt sich nicht bewegt hatte, fand sie ihn plötzlich neben sich, und Sekunden später legte sich wohltuende Kühle über den heißen Schmerz. Erstaunt blickte sie hoch, dann zur Seite. Ach so, sie hatte eine Infusionsnadel im rechten Arm, durch die ihr ein starkes Schmerzmittel zugeführt wurde, das jetzt in schnellem Rhythmus aus dem Plastikbehälter tropfte.
„Tut es noch weh?“ Der Mann sah sie besorgt an, und als sie den Kopf schüttelte, atmete er erleichtert aus. „Gut. Das reicht erst mal. Ich komme später wieder.“
Als er sich zum Gehen wandte, legte sie ihm schnell die Hand auf den Arm. „Nein …“ Das kam ganz spontan, so als habe sie Angst, ihn nie wiederzusehen, wenn er sich jetzt entfernte. Als sei er dann für immer für sie verloren. Fester drückte sie zu, wie um sich zu zwingen, sich zu erinnern. Sie kannte ihn, aber woher? Hatte er ihr etwas bedeutet?
Er wich ihrem Blick aus und starrte auf die Hand, die ihn immer noch festhielt. „Ihre Reflexe sind gut. Motorik und Koordination scheinen wieder normal zu funktionieren. Das alles spricht dafür, dass Sie sich schneller erholen, als ich befürchtet habe.“
Offenbar hatte er nicht viel Hoffnung gehabt. Hatte er sie bereits abgeschrieben gehabt? „Darüber sollte ich … wohl froh sein?“
„ Sollte ? Freuen Sie sich denn nicht, dass alles wieder gut wird?“
„Doch, doch … das schon. Glaube ich wenigstens. Aber so ganz bin ich noch nicht da.“ Nur in seiner Gegenwart fühlte sie sich lebendig. „Was ist denn eigentlich mit mir passiert?“
Mit einer schnellen Bewegung schüttelte er ihre Hand ab. „Sie
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