Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
gute Roman eigentlich ist.
Seit es Literatur gibt, hat alles Große am Menschen – Leid, Freude, Grauen, Gnade – gute Romane hervorgebracht. Diese Ausnahmebücher werden oft verkannt, sie sind immer in Gefahr, vergessen zu werden, und in der heutigen Zeit, in der sehr viele Bücher veröffentlicht werden, setzen das Marketing und der Handel mit ihrer Macht und ihrem Zynismus alles daran, sie in Millionen belangloser, um nicht zu sagen überflüssiger, Bücher untergehen zu lassen.
Diese meisterlichen Bücher jedoch sind eine Wohltat. Sie verzaubern. Sie helfen leben. Sie belehren. Dennoch ist es eine Illusion, sie könnten allein aus sich heraus ihre Strahlkraft entfalten, es ist vielmehr so weit gekommen, dass sie verteidigt und unablässig in den Vordergrund gestellt werden müssen. Und das ist unser einziges Bestreben.
Wir wollen notwendige Bücher, Bücher, die wir am Tag nach einer Beerdigung lesen können, wenn wir vor lauter Weinen keine Tränen mehr haben, wenn wir uns nicht mehr aufrecht halten können und verglüht sind im Schmerz; Bücher, die da sind wie Nahestehende, nachdem wir das Zimmer des toten Kindes aufgeräumt und seine privaten Aufzeichnungen abgeschrieben haben, um sie immer bei uns tragen zu können, wenn wir tausend Mal den Duft seiner Kleider im Kleiderschrank eingesogen haben und nichts mehr zu tun ist; Bücher für die Nächte, in denen wir trotz aller Erschöpfung keinen Schlaf finden und uns einfach losreißen möchten von den Visionen, die uns verfolgen; Bücher, die Gewicht haben und die wir nicht beiseitelegen, wenn wir immer wieder die sanfte Stimme des Polizisten hören: ›Sie werden Ihre Tochter nicht lebend wiedersehen‹; wenn wir uns immer wieder dabei zusehen, wie wir den kleinen Jean panisch im Haus suchen, dann panisch im Garten, wenn wir ihn in jeder Nacht fünfzehn Mal im kleinen Teich finden, bäuchlings im dreißig Zentimeter hohen Wasser liegend; Bücher, die wir der Freundin mitbringen können, deren Sohn sich vor zwei Monaten, die uns vorkommen wie eine Stunde, in seinem Schlafzimmer erhängt hat, oder dem Bruder, den die Krankheit gezeichnet hat.
Jeden Tag schneidet sich Adrien die Pulsadern auf, betrinkt sich Maria, gerät Anand unter einen Lastwagen, wird eine Zwölfjährige in Tschetschenien – Turkmenistan, Darfur – vergewaltigt. Jeden Tag trocknet Véronique einem Todgeweihten die Tränen, hält eine alte Frau einem schrecklich entstellten Sterbenden die Hand, birgt ein Mann ein kleines Kind, das betäubt zwischen Leichen liegt.
Wir können mit belanglosen, hohlen, gefälligen Büchern nichts anfangen.
Wir wollen keine hastig zusammengeschusterten Bücher mehr: ›Schreiben Sie’s mir bis Juli fertig, im September bringe ich es mit allen Mätzchen auf den Markt, dann verkaufen wir hunderttausend Stück, und fertig ist der Lack.‹
Wir wollen Bücher, die für uns geschrieben wurden, für uns, die wir an allem zweifeln, wegen einer Kleinigkeit in Tränen ausbrechen und beim kleinsten Geräusch zusammenfahren.
Wir wollen Bücher, die ihren Autor viel gekostet haben, in denen sich die Jahre seiner Arbeit niederschlagen, seine Rückenschmerzen, seine Pannen, seine Panik, wenn er sich zu verlieren fürchtete, seine Mutlosigkeit, sein Mut, seine Angst, seine Beharrlichkeit und das Risiko des Scheiterns, das er auf sich genommen hat.
Wir wollen herrliche Bücher, die uns in die Herrlichkeit der Realität eintauchen lassen und uns dort festhalten; Bücher, die uns beweisen, dass in der Welt die Liebe am Werk ist, neben dem Bösen, gegen das Böse und manchmal nicht von ihm zu unterscheiden, dass sie es immer sein wird, wie auch das Leid immer die Herzen zerreißen wird. Wir wollen gute Romane.
Wir wollen Bücher, die weder der menschlichen Tragik ausweichen noch den täglichen Wundern, Bücher, die uns Luft zum Atmen geben.
Und wenn es davon in jedem Jahrzehnt nur eins gäbe, wenn es nur alle zehn Jahre ein Leben der kleinen Toten gäbe, würde uns das genügen. Etwas anderes wollen wir nicht.«
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F rancescas Entgegnung löste ein großes Echo aus. Ihr Text wurde in Dutzenden von Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt und stand auf Hunderten von Webseiten.
Es tauchte sofort ein Flugblatt auf, auf dem nur der zweite Teil des Textes stand: »Wir wollen notwendige Bücher …« Dieses Manifest blieb monatelang in Umlauf. Es wurde auf alle möglichen Arten gedruckt, immer sorgfältig und manchmal auf sehr schönem Papier. Meistens wurde es wie ein
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