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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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diejenige war, die ein Treffen vorschlug. War es wirklich vorstellbar, dass sie am selben Ort arbeiten würde wie er? Und schlimmer noch: mit ihm zusammen?
    Van schwankte zwei Tage, malte sich ein Dutzend Szenarios aus und sprang dann ins kalte Wasser. Papier müsse den Liebesbriefen vorbehalten bleiben, fand er. Telefon? Er hätte es schwer ertragen, wenn seine Botschaft auf dem Anrufbeantworter nicht beantwortet würde. Er konnte es sich selbst nicht erklären, aber so war es: Ein unbeantworteter Anruf erschien ihm schmerzlicher als eine unbeantwortete Mail. Er verbrachte eine Dreiviertelstunde vor seinem Computer, ohne sich zu rühren, und dachte sich allerlei Listen aus, Pseudoannonce, Pseudobenachrichtigung von der Uni, Pseudotipp eines Pseudostudenten und schließlich – gegen Mitternacht – setzte er alles auf eine Karte und schrieb so unumwunden wie möglich:
    Als Francesca im letzten August außer mir noch jemanden für die Buchhandlung einstellen wollte, habe ich, wie Sie sich denken können, gleich an Sie gedacht. Doch da waren Sie gerade nach Paris gezogen. Und Sie trafen sich paradoxerweise immer seltener mit mir. Ich wagte es nicht, Ihnen von der Stelle in der Buchhandlung zu erzählen. Sie hätten es für einen faulen Trick gehalten. Ich hatte zu viel Angst, Sie würden mich auslachen.
    Jetzt möchte Francesca einen dritten Buchhändler einstellen. Die Auswahl überlässt sie mir. Hätte ich Ihnen das verschweigen sollen?
    Van überlegte noch eine gute Viertelstunde lang, ob er eine Schlussformel anfügen sollte. Nein, beschloss er schließlich und klickte auf »Senden«. Im selben Augenblick sah er, dass er zu unterschreiben vergessen hatte. Er schickte eine zweite Mail mit dem Betreff: »Fortsetzung, nicht Schluss«, die aus einem einzigen Wort bestand: Ivan. Dann ging er völlig erschöpft schlafen.
    Anis’ Antwort kam in aller Ruhe nach vierundzwanzig Stunden und auf demselben Weg. Nein, das durften Sie mir nicht verschweigen. Es ist eine Traumstelle. Aber muss ich Sie daran erinnern, dass ich schrecklich wenig Zeit habe?
    A.
    Van verstand nichts. Er wusste sich keinen besseren Rat, als die Mail Francesca zu zeigen.
    »Was lesen Sie daraus?«
    »Ich lese: Nein, Sprechen, Traum, Schrecken, Zeit und schließlich ein etwas verschlossenes A. Das ist doch ziemlich klar.«
    »Finden Sie?«
    »Sie nicht? Dabei ist es sehr verständlich. Ich übersetze es Ihnen: Jetzt ist es nicht möglich, wie groß meine Lust dazu auch sein mag. Ich arbeite daran, meine Ängste zu überwinden. Lassen Sie mir Zeit. Reden Sie mit mir.«
    »Aber warum? Warum ist es nicht möglich, warum braucht sie Zeit?«
    »Das, Ivan, ist das Rätsel, das Sie lösen müssen, um weiterzukommen. Sie und Sie allein. Für mich ist die Sache viel einfacher. Ich erhalte mein Angebot, diese kleine Sphinx einzustellen, aufrecht. Es kommt uns ja auf ein paar Wochen nicht an. Wir können warten. Aber sagen Sie ihr das lieber nicht. Antworten Sie nicht. Drängen Sie sie vor allem nicht. Erwähnen Sie es gar nicht mehr. Durchaus möglich, dass man Sie in einiger Zeit ganz beiläufig fragen wird, ob die Stelle schon vergeben ist.«

36
    G uter Rat war das, was Van sich wünschte. Sein ungesteuertes Vorgehen hatte ihn ja nur ins Chaos geführt. Noch mehr hätte er sich über klare Anweisungen gefreut. Jedenfalls folgte er Francescas Rat umso lieber, als er ja schon seit einiger Zeit genau diese Linie zu verfolgen versuchte.
    Er verbrachte seine Tage in der Buchhandlung und im Frühjahr manchmal auch die Nacht. Um elf oder zwölf Uhr nachts hatte er oft keine Lust, in sein Dachatelier zurückzukehren, und legte sich, flach auf dem Rücken, auf dem Sisalteppich schlafen.
    Der gute Roman war immer noch von derselben vibrierenden Ruhe und demselben stillen, aber intensiven Einverständnis durchdrungen. Die Dinge nahmen wieder ihren normalen Lauf, die Kunden wurden wortkarg wie gewöhnlich. Die Solidaritätsbekundungen waren nun nicht mehr so explizit, sondern eher diskret, ein Lächeln, ein – in Paris eher unübliches – Händeschütteln für den Buchhändler, ein herzhaftes »Nun aber« statt eines Abschiedsgrußes beim Verlassen der Buchhandlung. Francesca hatte Van niemals wieder auf die so genannten Enthüllungen des Poing angesprochen. Dafür kam Van aus eigenem Antrieb noch einmal darauf zu sprechen. Eines Tages erschien Oscar in der Buchhandlung, noch ganz benommen von Agejews Roman mit Kokain , der ihn fast die ganze Nacht wach gehalten

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