Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
Vom Netzwerk:
anders ist als sie?«, fragte Van. »Und zwar in der einen oder anderen Richtung, jemand viel Unangenehmeren oder auch viel Sympathischeren.«
    Wie auch immer, an sechs von sieben Tagen in der Woche lief Brother in diesem ihm verhassten Dorf wie in einem Käfig auf und ab, empfing seltene Besuche und brachte auch noch die Wohlmeinendsten von ihren guten Vorsätzen ab. Er aß, was gerade da war oder eben nicht da war. Abends, wenn er sich selbst satthatte und zugleich völlig ausgehungert war, ging er oft in eine Kneipe an der Landstraße essen.
    Er mochte Alfred, den Wirt, der sich weigerte, das von den Touristen verlangte Käsefondue auf die Karte zu setzen, und sagte: Das ist nur was für die Schweizer Kühe. Stattdessen servierte er frisch gepökeltes Schweinefleisch, Frikassees und hausgemachte Blutwurst. Dorthin ging Brother an zwei von drei Abenden. Am dritten konnte er nicht einmal mehr Alfred ertragen.
    »Und in dieser Kneipe wurde er am 7. November nach dem Abendessen, wahrscheinlich ziemlich spät, von einem Fremden angesprochen.«
    Er hatte wenig gegessen und viel getrunken. Der Fremde setzte sich zu ihm an den Tisch und brachte von seinem Tisch die Flasche mit, die er noch nicht leer getrunken hatte. Er stellte sich als Filmer vor, als Dokumentarfilmer, der sich gerade vor Ort kundig mache. Brother wusste nicht mehr, welche Art Filme er machte. Er erinnerte sich an einen ziemlich jovialen Mann, der zügig und ohne die Gläser zu zählen trank und, nachdem er den Wein intus hatte, zu den Obstlern überging, erst Birne, dann Enzian und schließlich Pflaume.
    Es war schon stockfinster, der Wirt sank hinter seiner Theke langsam in sich zusammen.
    »Brother stand auf«, erzählte Van weiter, »und verabschiedete sich. Der Mann stand ebenfalls auf. Beide verließen das Lokal und gingen noch ein paar Schritte nebeneinanderher. Da tauchte ein zweiter Unbekannter auf und schlug einen Waldspaziergang vor. Brother hatte keine Lust. Doch er hatte keine Wahl. Sie zückten ein knallhartes, metallisches Argument und drückten es ihm in die Rippen. Er war nicht in der Lage, sich zu wehren. Er sprach von dem dunklen Weg, von den beiden Hünen, die ihn fast trugen, von Ästen, die ihm das Gesicht zerkratzten. Und dann sagte einer von den Kerlen: ›Trink das.‹ Er erinnert sich an seine Angst, an sein Gehorchen, an den Schnaps, der ihm im Magen brannte. Und an eine schneidende Stimme, die sagte: ›Das ist nicht gut , was? Nicht gut genug für dich? Ist das kein guter Roman? Dabei ist die Szene nicht schlecht, vielleicht ein bisschen düster … Wäre sie nicht ein guter Romananfang?‹«
    »O nein«, sagte Armel.
    »Als Brother wieder zu sich kam«, fuhr Ivan fort, »schüttelte ihn das Fieber. Er weiß nicht, woher er die Kraft nahm, sich bis ins Dorf zu schleppen. Aber er weiß genau, was ihn dazu trieb – und ist nicht stolz darauf. Er hatte schreckliche Angst, die Angreifer könnten zurückkommen.«
    »Ist eine Zirrhose heilbar?«, fragte Armel.
    Van zog ein zweifelndes Gesicht.
    »Ja und nein. Sie ist nicht behandelbar. Das Einzige, was man tun kann, wenn man am Leben hängt, ist, keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken.«
    »Und Brother hängt am Leben?«
    »Ich habe den Eindruck. Es wird ihm sauer werden. Es wird ihm sehr schwerfallen, mit einem Schlag Abstinenzler zu werden. Aber das ist nicht seine größte Sorge. Am schlimmsten ist für ihn die Aussicht, in sein Dorf zurückkehren zu müssen. Er hat mir gesagt, er habe seiner Einweisung ins Krankenhaus nur zugestimmt, weil es für ihn die einfachste Möglichkeit war, geschützt zu werden. Er weiß nicht, wohin er gehen soll, wenn er entlassen wird.«
    »Ich würde ihn gern zu uns in die Bretagne einladen. Aber ich bin mir nicht sicher, dass es eine gute Idee wäre, wenn man bedenkt, wer sich so auf dem Steilfelsen herumtreibt. Am liebsten würde ich mich selbst für ein paar Wochen verdrücken.«
    »Ich glaube eigentlich nicht, dass man Ihnen nach Hause folgen wird«, sagte Ivan. »Ich meine, bis in Ihr Haus.«
    Sein Ton allerdings ließ vermuten, dass er diese Möglichkeit im Grunde auch nicht völlig ausschloss. Er merkte es selbst, als er es aussprach. Mit einem Mal erschien ihm Le Gall, wie er ihm so an dem Tischchen gegenübersaß, alt und verletzlich. Von ihrer ersten und einzigen Begegnung hatte er ihn als undurchdringlichen Brocken, wie in Fels gehauen, in Erinnerung behalten. Jetzt sah er ihn eher tönern, stattlich, dunkelbraun, aber weniger kompakt,

Weitere Kostenlose Bücher