Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
eine größere Breite in der Auswahl gewährleistet. Und dass es von Anfang an acht Vorschlagsberechtigte waren, hat uns gleich mit einer entsprechenden Menge an Titeln versorgt.«
8
A ls es an diesem Sonntag dunkel wurde, war Anne-Marie allein. Nach sieben Uhr kamen keine Besucher mehr. Es war vollkommen still. Eine Schwesternhelferin, sie stammte von den Antillen und sprach mit tiefer Stimme, hatte das Tablett mit dem Abendessen wieder abgeholt. Dann hatte die Nachtschwester nachgeschaut, ob es ihrer Patientin auch an nichts fehle. Sie hatte Anne-Marie zwei Finger auf die Stirn gelegt, und diese hatte sofort ihr Parfum erkannt, Ô de Lancôme , ein Traum.
»Soll ich die Fensterläden schließen«, hatte sich die Nachtschwester erboten und dabei dieses schöne alte Wort für eine schöne alte Einrichtung auf die sehr zeitgenössischen weißen Plastikrollos angewandt.
»Noch nicht«, hatte Anne-Marie gesagt.
Es war ein schöner Tag gewesen, einer dieser Herbsttage, an denen das Himmelblau rauchig wirkt und das Braun der Erde einen Blauschimmer hat. Anne-Marie wollte noch sehen, wie das Licht des Tages erlosch und die Nacht ihn immer weiter überwand. Sie liebte diese Stunde, in der die Dämmerung umschlug.
Sie überprüfte zum hundertsten Mal, ob ihre Sensoren noch funktionierten, von dieser Sorge war sie wie besessen. Es war so ziemlich das Einzige, was sie den Schrecken des Abends entgegensetzen konnte. Es wurde ihr schwer ums Herz, als sie daran dachte, wie sehr sie in normalen Zeiten die Einsamkeit geliebt hatte – vorher.
Die Nacht kam, und mit ihr, untrennbar mit ihr verbunden, die beiden Ängste, die Anne-Marie seit ihrem Unfall quälten.
Die erste betraf die Art des Angriffs, dem sie zum Opfer gefallen war.
Dass man sie in ihrem Wagen ins Visier genommen hatte, beunruhigte sie aufs Äußerste. Denn sie schrieb in ihrem Fahrzeug. Niemand wusste es, aber sie schrieb nur im Auto, das jedenfalls erklärte sie Francesca später oder auch Van, ich weiß es nicht mehr genau. Bis zu ihrem Unfall hatte sie es niemandem gesagt. Es ging ja auch nur sie etwas an. Doch danach hatte sie das Gefühl, es sei wichtig für die Ermittlungen. Weil es bezeugte, wie unglaublich gut die Barbaren informiert waren. – Als hätten sie sich abgesprochen, was ja unmöglich war, sprachen sowohl Paul als auch Anne-Marie und Armel von den Barbaren, wenn sie mit Van – oder Francesca – über ihre Angreifer sprachen. Ivan meinte, es gebe keinen treffenderen Begriff, er und dann auch Francesca übernahmen es als Bezeichnung für den Feind.
Anne-Marie erklärte, in den zwölf Jahren ihrer Ehe habe sie wenig Zeit zum Schreiben gehabt. Genauer gesagt – denn die Zeit war nicht das allein Ausschlaggebende dabei, auch der Raum spiele eine große Rolle – sei es so, dass die Sorge um ihre Kinder, die sie über alles liebe, um ihr Haus im weitesten Sinne des Wortes und um alles, was man üblicherweise in den weiten Begriff des Lebens fasse – Mahlzeiten, Hausaufgaben, Gartenarbeit, Ferien, Kümmernisse, Fieber, die Gesellschaft der Nächsten und Liebsten, der vorübergehenden Freunde, die grundlegenden Solidaritäten –, dass all diese Gedanken und Aufgaben sie völlig in Anspruch nähmen, wenn sie zu Hause sei. Sobald sie aber allein im Wagen sitze, sei alles ganz anders. Die Erfahrung habe sie gelehrt, dass sie, sobald sie im Auto sei, und sei es nur für eine kurze Spanne des Alleinseins und nur, um die Kinder aus der Schule zu holen, mit dem Leben , seinen Aufgaben und Bindungen, breche. Dann kämen ihr die Ideen. Dann habe sie das dringende Bedürfnis zu schreiben. Dann zähle nichts mehr außer diesem Bedürfnis. Sie halte dann irgendwo unterwegs an, am Straßenrand, unter einem Baum oder an einem Maisfeld. Es sei ihr zur Gewohnheit geworden. Wenn sie den Motor ausgestellt habe, brauchte sie die Worte, die geradezu danach verlangten, nur noch niederzuschreiben.
Sie hatte eine Methode entwickelt. Auf den Wegen von und zur Schule durfte nicht die geringste Verspätung entstehen. Anne-Marie erledigte ihre Fahrten mit absoluter Pünktlichkeit. Doch in den Zeiten dazwischen schlug ihr keine Stunde. Eine Passage, die sie aus einem Buch heraussuchen wollte, ein fehlendes Gewürz für das Abendessen – sie nutzte jeden Vorwand für eine Autofahrt. Denn sie wusste, unweigerlich würden dann die Sätze – Bilder, Ideen – wie vom Motorgeräusch gerufen bei ihr anklopfen. Sie suchte sich eine Stelle, wo sie ungesehen parken konnte.
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