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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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hochgewachsene Dame stand vor ihm, sah ihn an und wartete darauf, dass er ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm.
    Für Van war sie keine Unbekannte. Er hatte sie schon mehrmals in der Buchhandlung gesehen. Sie fiel auf wegen ihrer Größe, ihrer Schönheit und dem Schleier von Traurigkeit, der immer über ihr lag. Insgeheim nannte Van sie Silvana Mangano, weil sie ihn an die Mutter des jungen Tadzio in Viscontis Tod in Venedig erinnerte. – Übrigens fand er, dass der Film nicht an die gleichnamige Erzählung heranreichte. – Er gab den Kunden, deren wirklichen Namen er nicht kannte, gern solche Spitznamen. Eine Käuferin von Klassikern mit altmodischer Schildpattbrille war Simone Weil, ein Jugendlicher, der aussah, als hätte er das Gelübde abgelegt, niemals zu lächeln, der junge Werther, eine auffällige, lachlustige Dicke, die jedes Mal laut nach einem Buch fragte, das seiner Meinung nach das am meisten überschätzte der Saison war, Nana.
    Bei der großen, schönen Dame war es das genaue Gegenteil. Van war aufgefallen, wie außerordentlich sicher ihr Geschmack war. Die Romane, die sie kaufte, waren immer ausgefallen und selten Neuerscheinungen, und wenn es doch einmal eine Neuheit war, dann war es die einzige des Jahres, die Van für lesenswert hielt.
    Bei den vorangegangenen Malen hatte er ihr kurz zu ihrer Wahl gratuliert, »Was für ein Buch« oder »Ein Meisterwerk«, aber nie mehr, sie schien nicht auf Gespräche erpicht zu sein. Doch dieses Mal hatte sie aus der Honigecke drei Werke desselben McCarthy gewählt, den Ivan über jeden anderen lebenden Autor der Welt stellte, deshalb erwiderte er ihren Blick und sagte: »Sie haben sich die drei schönsten Romane in diesem Geschäft ausgesucht.« »Das glaube ich gern«, erwiderte sie lächelnd.
    Sie habe die beiden ersten, All die schönen Pferde und Grenzgänger , gelesen und wolle möglichst bald den dritten lesen und das Triptychon dann ihren Bekannten ausleihen. Sie segne den Himmel für das schlechte Wetter: Noch am Abend würde sie Land der Freien zu Ende lesen können. Dies würde ein unvergesslicher Tag. Denn sie erinnere sich noch an die Tage, an denen sie Band I und II gelesen habe, Band I während einer Zugfahrt von Florenz nach Rom, eine Woche zuvor, und Band II am Tag darauf in Rom, wo sie nur noch eins im Sinn gehabt habe: herauszufinden, wer dieser Autor sei und welche Bücher er noch geschrieben habe.
    Van war hingerissen.
    »Sie bestätigen mir, dass von allen Auswirkungen der Literatur eine der beglückendsten diejenige ist, dass sich Menschen, die dazu geschaffen sind, einander zu verstehen, gegenseitig erkennen und miteinander sprechen.«
    Im vergangenen Juni habe er sich im Zug eine Stunde lang mit einer jungen Mutter unterhalten, erzählte er, die eigentlich auf der anderen Seite des Mittelgangs gesessen habe und noch dazu zwei Reihen vor ihm. Trotzdem sei er zu ihr gegangen, um sie zu beglückwünschen.
    Dafür hatte Van drei Gründe gehabt: Erstens hatte die junge Frau ihren Blick unverwandt auf ein Buch gerichtet gehalten und sich anscheinend auch nicht davon ablenken lassen, dass der Älteste, er mochte schon acht oder neun Jahre sein, am Daumen lutschte und die beiden anderen mit geradezu automatenhafter Regelmäßigkeit jede Minute in Streit gerieten. Zweitens war das Buch, das sie so gefangen nahm, Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz von Fruttero und Lucentini, einem Schriftstellergespann, das Van sehr mochte. Und schließlich drittens lasen auch ihre drei Kinder eifrigst. Die beiden jüngeren stritten sich nur deswegen, weil sie ins selbe Buch vertieft waren und das kleine Mädchen nach jeder zweiten Seite ihren Bruder mit einem »Blätter um!« anfauchte, worauf der Junge verärgert, aber dennoch ruhig mit einem »Warte« reagierte.
    Van und die junge Mutter hatten über F & L gesprochen, wie sie in Italien heißen, beide gleichermaßen davon überzeugt, dass sie wunderbare Prosaisten seien und in Frankreich unterschätzt würden, schließlich habe es kein französischer Autor fertiggebracht, wie sie Millionen von Lesern anzusprechen, ohne die geringsten Konzessionen an einen unterstellten Massengeschmack zu machen. »Nun ja, vielleicht abgesehen von Echenoz«, schloss Van seine Erzählung ab.
    »Haben Sie sie in Italienisch gelesen?«, fragte die schöne Dame, die darüber fast vergaß, ihre McCarthys zu bezahlen.
    »Nein. Aber da bringen Sie mich auf eine Idee. Das wäre wirklich ein Grund, Italienisch zu lernen.«
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