Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
erzählte, wie es weitergegangen war.
An jenem Tag im Januar 2004, an dem sie erfuhr, dass außer ihr noch jemand Cormac McCarthy mehr schätzte als alle anderen lebenden Schriftsteller, und an dem das sich anschließende Gespräch sie bewog, das Projekt, von dem sie bis dato nur geträumt hatte, unverzüglich in die Tat umzusetzen – denn aus Ivans Gesichtsausdruck ging klar hervor, dass sie den richtigen Buchhändler für dieses Projekt gefunden hatte –, war sie für eine Woche nach Méribel gekommen.
Ivan und sie sahen sich jeden Abend. Sie trafen sich im Mont Vallon , einem der Grandhotels des Ferienorts. Als sie am ersten Abend, um Mitternacht, übereingekommen waren, das weitere Pläneschmieden auf den nächsten Abend zu verschieben, sah Francesca, dass Van sich auf seinem Stuhl aufrichtete und nach dem Kellner Ausschau hielt. Sie habe Kredit in diesem Haus, sagte sie daraufhin ganz schlicht. Van ließ sich einladen. Und erklärte mit derselben Natürlichkeit, er seinerseits habe gerade genug zum Leben, und auch nur, wenn er sich alle Mahlzeiten zu Hause zubereite.
Francesca wohnte im Ortsteil Belvédère in einem Chalet der Familie, sagte sie ohne nähere Erklärungen, sodass Van nicht wusste, ob sie bei Verwandten wohnte oder ob es ihrer Familie gehörte. Diese Woche war sie allein dort. Nun ja, sagte sie einschränkend und wies, als Van sich erbot, sie nach diesem ersten Arbeitsessen heimzubegleiten, mit einer leichten Handbewegung auf einen glänzend schwarzen Wagen, der vor dem blauen Nachthimmel im Schnee stand und, wie das Hausmeisterehepaar, auf Francesca wartete.
Eine Sekunde lang verfiel Ivan auf den Gedanken, ein solcher Hausmeisterposten könne ihm auch gefallen. Doch zu spät: Er war gerade mit der Aufgabe betraut worden, möglichst bald eine Buchhandlung namens Der gute Roman zu eröffnen. Sie hatten vereinbart, dass Ivan Monsieur Bono schon am Tag darauf sein Kündigungsschreiben überreichen würde. Francesca würde sich um die Frage der Kündigungsfrist kümmern. Sie wusste, mit welchen Argumenten man einen Arbeitgeber überzeugen konnte, auf die Frist zu verzichten. Februar, März, April, Mai, Juni, Juli, August – sie zählte es an den Fingern ab. Sieben Monate sollten genügen, dann könnte Der gute Roman am Ende des Sommers, vor der rentrée littéraire , der großen Herbstoffensive der französischen Verlage, eröffnen.
»Ob nun vor oder nach der rentrée «, wandte Ivan ein, »was hat das schon für eine solche Buchhandlung zu bedeuten?«
»Im Grunde nichts«, sagte Francesca. »Sie haben recht. Aber Sie wissen, wie es in Frankreich ist. Im Oktober und November gibt es so etwas wie ›Roman-Wochen‹, in denen das ganze Land daran erinnert wird, dass Literatur nicht völlig bedeutungslos ist. Es wäre schade, wenn wir dann noch nicht eröffnet hätten.«
An diesem ersten Abend hatten sie die Welt neu erfunden, den Buchhandel und das Verlagswesen, und über die Bücher gesprochen, die sie liebten. Sie tauschten die Telefonnummern aus, und Francesca ließ sich Ivans Namen buchstabieren. »G, E, O, R, G«, sagte Van. »Ein germanischer Name, mein Vater sprach ihn deutsch aus, ich hätte gern gewusst, warum. Ich weiß nicht, ob meine Mutter den Grund kannte, jedenfalls hat sie ihn mir nicht genannt. Diese Aussprache meines Namens ist das Erfreulichste, was mein Vater mir geschenkt hat. Ge-org, in zwei Silben. Auf Französisch klingt es wie gai-orgue, fröhliche Orgel. Eine echte Leitschnur fürs Leben.«
Den ganzen zweiten Abend diskutierten sie darüber, welche Art Bücher in Der gute Roman angeboten werden sollten. Francesca war für ein klar abgegrenztes Angebot, Romane, nichts als Romane.
»Wenn wir im allgemeinen Durcheinander sichtbar sein wollen, gibt es nur eine Möglichkeit: Wir müssen durch die Einfachheit unseres Projekts auffallen. Der gute Roman bedeutet gute Romane – das muss klar sein.«
Van fand sie in diesem Punkt zu streng. Wenn das Auswahlkriterium die literarische Qualität sein solle, dann gebe es auch einige Erzählungen, die es mit den besten Romanen aufnehmen könnten.
»Es gibt sogar Autoren, deren Erzählungen besser sind als ihre Romane, ich meine in literarischer Hinsicht besser, Jean Rolin zum Beispiel.«
Er hätte gern auch Lyrik, Novellen und die wenigen wirklich vollkommen geschriebenen Essays ins Angebot aufgenommen.
»So viele sind es ja nicht.«
Francesca beharrte auf ihrem Standpunkt. Sie war bereit, zusätzlich zu den Romanen Novellen
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