Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
mehr mit Leib und Seele dabei. Monsieur Bono schaute dreimal am Tag nach dem Rechten und schickte in der Zwischenzeit Spione, die so unauffällig waren wie Froschmänner auf einer Skipiste. Van verkroch sich hinter seine Kasse und las den ganzen Tag.
13
E r hätte diese Arbeit nicht mehr lange durchgehalten, hätte er nicht im Dezember desselben Winters eines Nachmittags in der ruhigen Zeit ein junges Mädchen in Straßenkleidung – wobei diese konventionelle Bezeichnung schlecht zu einem Aufzug passt, der eben nicht konventionell war, sagen wir lieber: in für Méribel ungewöhnlicher Kleidung – bemerkt; sie las im Stehen und, je mehr sie im Buch vorankam, desto gefesselter und unbekümmerter darum, ob man sie beobachtete. Sie las Von wegen den Tieren , einen Roman von Noëlle Revaz, den Ivan sehr schätzte. Als sie nach anderthalb Stunden, sichtlich bewegt, auf der letzten Seite ankam, das Buch zuklappte und es auf seinen Platz auf dem Honigtopf-Regal stellte, bemerkte sie Ivans Blick, errötete, sah ihm jedoch unverwandt in die Augen und sagte: »Ich habe kein Geld.« »Macht gar nichts«, beruhigte Van sie hastig, denn immerhin hatte er noch die Freiheit, in seinem Keller zu empfangen, wen er wollte. Er deutete mit dem Kinn auf das gerade zurückgestellte Buch. »Und?«, fragte er. »Was halten Sie davon?«
Das junge Mädchen stand unter Schock. Sie hatte schon lange nichts so Starkes mehr gelesen. Inhalt, Kontext, Charaktere, dieser Gorilla von einem Mittelgebirgsbauern und seine namenlose Frau, sie würde die beiden nicht so bald vergessen. Aber das ihrer Ansicht nach Beeindruckendste daran war die Beschaffenheit dieses langen Monologs, der Stil, der Erfindungsreichtum der Verfasserin, die eine neue Sprache schuf, ein beispielloses Französisch, zerbeult und holprig und völlig angemessen für den eben auch beispiellos rohen Menschen, der es sprach.
»Man liest es bis zum Ende, man hat dergleichen noch nie gelesen, aber man denkt, dieser Mann konnte nur genau diese Sprache sprechen«, sagte sie, noch immer ganz benommen.
Ivan war hinter seiner Theke hervorgekommen.
»Dieser Mann, von dem die Autorin versichert, er sei reine Erfindung.«
»Kennen Sie Noëlle Revaz? Wer ist sie, woher nimmt sie eine solche Kraft?«
»Ich kenne sie nicht persönlich, aber ich habe eine lange Radio sendung mit ihr gehört. Sie ist Schweizerin, dreißig Jahre und Lateinlehrerin, dies ist ihr erster Roman.«
Ein Kunde gab Van ein Zeichen, dass er ihn etwas fragen wolle. Das junge Mädchen schien sich ihrer Umgebung und der Uhrzeit wieder bewusst zu werden.
»Danke, dass Sie mich haben lesen lassen«, sagte sie leise zu ihm.
»Das dürfen Sie gern jederzeit wiederholen«, bot ihr Van an und bewegte sich auf den Kunden zu.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, ihr Blick war plötzlich abge schweift.
Doch noch rührte sie sich nicht vom Fleck. Sie war weder groß noch klein, weder hübsch noch hässlich, weder schlank noch dick. Das einzige Wort, mit dem man sie beschreiben kann, ist bezaubernd, dachte Van und gab dem Kunden langsam das Wechselgeld heraus. Dieses Mädchen war bezaubernd. Sie trug ihre Kleider mit völliger Souveränität, eine in die braunen Gummistiefel gesteckte Stoffhose, eine Gabardinejacke, einen roten, gestrickten Kinderschal, und aus ihrer Tasche ragte ein unordentlich zusammengefalteter Taschenschirm.
Sie sei nur für einen Tag in Méribel, teilte sie Van mit, nachdem der Kunde das Geschäft verlassen hatte. Sie konnte nicht Ski laufen, im Gegensatz zu den Studienfreunden, die sie mitgeschleppt hatten und mit denen sie sich abends wieder am Wagen treffen musste. Sie studierte Soziologie in Grenoble, war auf dem Land aufgewachsen, in Belgien, und sie geriet noch einmal in Verwirrung, als Van nach ihrem Namen und dann nach dem Zustandekommen eines so ungewöhnlichen Namens wie »Anis« fragte; es sei die Abkürzung eines zusammengesetzten Namens, den sie immer schrecklich gefunden habe, erklärte sie.
Drei Wochen darauf, immer noch im selben Winter, Mitte Januar 2004, an einem Morgen, an dem trotz des hartnäckigen Nebels kein Betrieb herrschte und Van sich hinter seiner Kasse in Les Bottes rouges von Franz Bartelt vertieft hatte, einem Autor, den er erst kurz zuvor entdeckt hatte und dessen Romane er jetzt einen nach dem anderen verschlang, wurden drei Bücher aufrecht vor ihn hingestellt. Van erkannte die drei Romane Cormac McCarthys, die seine Border-Trilogie bilden. Er hob den Kopf. Eine
Weitere Kostenlose Bücher