Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
ihnen sonst eher fremden Duft des Erfolgs einzuatmen. Ivan, der fast immer Fröhliche und Zugewandte, sah sich an der Kasse plötzlich Larry de Winter gegenüber und verkniff sich ein Lächeln – und genau das hätte ihn verraten können, wie er hinterher überlegte. Doch als ihm der alte Herr so nachdrücklich zuzwinkerte, dass auch Kopf und Oberkörper nach vorn wippten, als hätte jemand von hinten nachgeholfen, brach er doch noch in hemmungsloses Gelächter aus.
Viele der Käufer zeigten echten Eifer. Oscar und Van bemerkten mehrere, die mehrmals in der Woche kamen. Die von Anis inspirierte Idee mit den Treuekarten wurde umgesetzt – und tatsächlich schienen gerade die guten Kunden sie für nebensächlich zu halten, denn sie wussten nie, wo sie sie hatten. Van kam auf den Gedanken, Konten zu eröffnen, wie sie früher in den Lebensmittelgeschäften üblich waren. Sein Vorschlag stieß auf viel Gegenliebe. Bei der Eröffnung dieser Konten stellte man sich mit Namen vor. Und hier und da hörte man ein »Monsieur Georg«. »Sagen Sie ruhig Ivan«, war Vans Reaktion dann. Oscar wurde sofort auf den Namen »Monsieur Oscar« getauft, weil sein madagassischer Name zu schwer auszusprechen und zu behalten war. »Ganz einfach Oscar«, sagte dieser immer wieder freundlich, sodass er zuweilen sogar »Monsieur Ganz Einfach« genannt wurde.
Einige Kunden verschwiegen hartnäckig ihre Namen. Meist waren es von Fotos her oder aus dem Fernsehen bekannte Autoren oder Literaturkritiker, die ohnehin von fast allen in der Buchhandlung auf den ersten Blick erkannt wurden. Bertrand Poirot-Delpech beispielsweise kam fast jeden zweiten Tag am späten Nachmittag, und man erkannte ihn gleich an seinem Bemühen, nicht aufzufallen. Einmal traf er zufällig auf Bernard Frank, und die beiden, offensichtlich im Glauben, niemand habe sie erkannt, lachten eine geschlagene Stunde Tränen, einträchtig über Evelyn Waughs Auf der schiefen Ebene gebeugt.
Bald schon schlugen manche Kunden Titel vor, die ihrer Ansicht nach fehlten. Häufig, weil sie enttäuscht darüber waren: »Ich kann Das Grasdach von Younghill Kang nicht finden. Dabei ist es ein herrlicher Roman.« – »Sollen wir es für Sie bestellen?«, war dann Oscars oder Vans unerschütterliche Antwort. Doch meistens wollten diejenigen, die einen Titel vorschlugen, diesen nicht kaufen, sie hatten ihn bereits. Sie wollten nur auf etwas hinweisen, das ihnen als kleines Versehen erschien.
Einem Kunden ein Buch beschaffen oder es vorrätig haben, ist nicht ganz dasselbe. Wenn jedoch jemand einen Roman nicht im Regal fand und ihn deshalb bestellte, war das nicht unbedingt als Vorschlag zur Sortimentserweiterung zu verstehen, doch es fragte sich schon, ob man es nicht aufnehmen sollte. Deshalb beschlossen Van und Francesca, den Jurymitgliedern alle Titel mitzuteilen, über deren Fehlen Befremden oder Erstaunen geäußert wurde. Das Komitee sollte dann entscheiden. Die Zustimmung nur eines Mitglieds reichte aus, um es in den Bestand aufzunehmen. Waren jedoch alle acht Komiteemitglieder dagegen, kam es nicht ins ständige Sortiment.
Unter den Vorschlagenden waren auch einige, die man schnell erkannte, obwohl sie nie ihren Namen nannten. Autoren. Sie verrieten sich mit den ersten Worten. Denn ihre Stimme klang nicht neutral, sondern erbost, schmerzvoll, enttäuscht – eben verletzt. Sie konnten die Titel nicht normal aussprechen, natürlich nicht, denn als sie sich dafür entschieden hatten, hatten sie sie mit mehr Sorgfalt hin- und hergewendet als die Vornamen ihrer Kinder. Diese Autoren kauften nie ein Buch. Ihre Vorschläge wurden genauso weitergereicht wie alle anderen auch. Francesca und Van waren sich erst nicht sicher gewesen, aber was hätten sie in diesem Stadium sonst tun sollen?
Andere gingen direkter vor. Es kamen Anrufe aus den Verlagen, manchmal recht undiplomatische: »Finden Sie das in Ordnung, dass Sie kein einziges Buch von Troyat führen?« Und allen gab man die gleiche Antwort: »Schreiben Sie uns kurz, zum Beispiel per Mail. Wir werden Ihre Nachricht an das Auswahlkomitee weiterleiten.«
Auch im Internet wurden viele Vorschläge gemacht. Jeden Abend verbrachte Van zwei Stunden damit, die im Laufe des Tages eingegangenen Mails zu lesen. Diejenigen, die einen Titel vorgeschlagen hatten, erhielten von ihm eine Standard-Mail mit der Erklärung der Spielregeln, dass nämlich jedes der Komiteemitglieder die Möglichkeit hatte, einen Titel aufnehmen zu lassen, und kein
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