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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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einladen wollen, erklärte Ivan. Aber er habe sich nicht vorstellen können, die gerade erst eröffnete Buchhandlung für so lange Zeit zu schließen.
    »Und Anis zu diesem Mittagessen im Wald mitzunehmen, nein, das wäre nicht gegangen«, fügte er noch hinzu.
    Nach der Eröffnung war Anis kein einziges Mal mehr in der Buchhandlung aufgetaucht.
    Dabei hätte sich Van sehr darüber gefreut. Außerhalb der Buchhandlung hatte er kaum noch Zeit. Auch Anis war sehr beschäftigt, in Paris hatte doch alles eine ganz andere Größenordnung als in Grenoble, und das machte ihr zu schaffen, die Studentenmassen, die Entfernungen zwischen den in der Stadt verstreuten Übungsräumen und Hörsälen. Sie war ein wenig enttäuscht, sie hatte sich die berühmte Sorbonne wirklich anders vorgestellt.
    Von Zeit zu Zeit rief sie an und hinterließ Nachrichten, die leichthin gesagt klingen sollten, auf Ivan aber furchtbar einstudiert wirkten, etwa: »Haben Sie Spanische Gärten von Cabanis gelesen? Wunderbar geschrieben. Es gibt eine beeindruckende Frauengestalt darin, Gabrielle, die es dem Erzähler nicht leicht macht.«
    Ivan las den Roman noch in derselben Nacht. Und begriff, dass die Botschaft alles andere als leicht zu nehmen war. Gabrielle tauchte auf und verschwand wieder. Vor allem verschwand sie. Sie war flatterhaft, aber auch das wusste man nicht genau, und je weiter man las, desto weniger wusste man es. Aber nach und nach erkannte man, dass Gabrielle genau das wollte, man sollte es nicht wissen, sie wollte ungreifbar bleiben, ein Rätsel.
    Van schickte von wechselseitiger Liebe handelnde Romane in die Rue du Bol-en-Bois, die nicht unbedingt einfach waren – Austens Stolz und Vorurteil – und in denen sich die Ereignisse nicht gerade überstürzten – Billetdoux’ L’Ouverture des bras de l’homme –, in denen man sich jedoch zum guten Schluss einig wurde. Es war nicht einfach, glücklich endende Liebesgeschichten zu finden. Fast alle Liebesromane sind herzzerreißend, Van wusste natürlich längst, dass es nur wenige mit gutem Ausgang gibt, hatte aber nicht im Entferntesten geahnt, wie wenige. In jedes der Bücher, die er Anis schickte, legte er ein Zettelchen mit den Worten: Wollen wir uns treffen? Sie trafen sich drei oder vier Mal, immer an einem Sonntag. Anis wollte Paris erkunden, sie besichtigten Balzacs Haus und Odilon Redons Atelier und liefen durch Belleville. So als Touristen geht das nicht weiter, dachte Ivan. Er hatte den Eindruck, dass Anis auf der Hut war. Sie fragte ihn oft nach der Buchhandlung, und er dachte, sie sei vielleicht eifersüchtig.
    Es regnete beharrlich, eine ganze Woche lang ohne jede Unterbrechung. Alles Laub, das noch an den Bäumen gehangen hatte, fiel mit einem Schlag ab. Zwei Mal machte Anis, rasch und sehr leise, rätselhafte Äußerungen. Einmal: »Ich bin gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden.« An einem anderen Tag: »Ich bin nicht frei.« Als Van sie drängte, das zu erklären, verschloss sich ihre Miene. Sie blieb schweigsam. Als wollte sie mich konsequent entmutigen, dachte Van manchmal. Manchmal aber auch: Sie ist ein Kind, das sich fürchtet.
    Zehn Tage vor Weihnachten lud er sie ins Kino ein. Man zeigte noch einmal Xica da Silva . Seiner Erinnerung nach strahlte der Film eine große Vitalität aus, deshalb rief er Anis an und schlug ihr vor, am nächsten Tag mit ihm ins Kino zu gehen.
    Im letzten Augenblick sagte sie ab, mit einem »Ich kann nicht«, das Van nicht einmal mehr zu verstehen versuchte. Sie muss es selbst wissen, dachte er. Entweder sie kommt, oder sie kommt nicht. Er jedenfalls würde aufgeben. Er würde nichts mehr in ihre Richtung unternehmen, sie nicht mehr anrufen oder einladen, ihr kein Buch mehr schicken. Sie konnte das Schweigen zwischen ihnen beiden andauern lassen oder es brechen, ganz wie sie wollte.
    Deshalb wanderten Francesca und er am Weihnachtstag nach dem Mittagessen eine Stunde durch den Wald, in der blitzenden Wintersonne und auf gefrorenem Boden, sie sagten nichts und unterdrückten beide einen heftigen Wunsch: Francesca das Bedürfnis, sich mit beiden Händen an Ivans Ellbogen festzuhalten und sich im Gehen an ihn zu schmiegen, und Ivan die Lust, Francesca einfach bei der Hand zu nehmen. Es machte ihnen beiden nichts aus, so schweigend nebeneinander herzugehen, und beide stellten es still für sich fest. Doch sie stellten auch fest, dass sie sich eigentlich nicht wie die Gründer eines Unternehmens verhielten, das, kaum da, schon

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