Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Mitglied die Aufnahme mit nur einer Stimme verhindern konnte. – »Gibt es ein Wort für das Gegenteil von Veto?«, erkundigte sich ein Internaut. »Bravo«, schlug jemand anderes vor.
Manche Vorschläge und Anmerkungen verdienten eine Erörterung. Van machte es sich zur Gewohnheit, jeden Tag eine kleine allgemeine Nachricht zu schreiben, in der er eine Idee aufgriff, einen Gesichtspunkt herausstellte, eine Information weitergab. Diese tägliche Mitteilung wurde schließlich zu einem Informationsbulletin, und da man nicht schnell genug einen Namen fand, hieß es bei allen nur noch Das Bulletin.
Doultremont war noch nie so distanziert gewesen wie in der Zeit, als die Realität all seine Vorhersagen Lügen strafte. Francesca sah ihn in den ersten Wochen nach der Eröffnung kaum. Kein einziges Mal sprach er sie auf die Buchhandlung an. Und er setzte keinen Fuß hinein – zumindest war das Francescas Eindruck. Sie hätte sich so gern getäuscht. »Wahrscheinlich ist er vorbeigekommen, hat sich aber nicht bei uns gemeldet«, sagte sie zu Ivan, der es nicht übers Herz brachte, ihr zu widersprechen. »Ja«, sagte er. »Es sollte mich sehr wundern, wenn er seiner Neugier widerstanden hätte. Wahrscheinlich weiß er, dass ich Oscar oft allein in der Buchhandlung lasse, um oben zu arbeiten.«
Doch in diesem Herbst wäre mehr nötig gewesen als dieses Desinteresse, um Francesca aus dem Lot zu bringen. Sie hatte zu tun. Jeden Tag warf Der gute Roman neue Fragen auf, die man nicht auf sich beruhen lassen durfte. Zudem musste man an die kommenden Monate denken. Francesca erlebte diesen Herbst als Wende in ihrem Leben. Die Trauer, die sie beherrschte, hielt sie nicht mehr davon ab, sich für Neues zu interessieren. Violette zog sie nicht mehr zurück.
Die Kunden verhielten sich wie Teilhaber. Eines Tages, als Van im Gespräch mit einem der treusten von ihnen – einem Pressezeichner, der sich, wenn er seinen Arbeitstag beendet und die Zeichnung bei seiner Tageszeitung abgegeben hatte, bis zum Abend in der Buchhandlung aufzuhalten pflegte – sagte, das Wort »Kunde« scheine ihm ungeeignet angesichts der Unterstützung durch Menschen wie ihn, Roselin Folco – Name und Vorname rührten von provenzalischen Vorfahren her –, schlug dieser vor, doch lieber von Freunden zu sprechen. »Die Freunde des Guten Romans «, sagte Ivan langsam. »Nein«, korrigierte Folco, »die Freunde des Romans.«
So wurde schließlich das Forum getauft, das den Anhängern der Buchhandlung zu jeder Zeit, aber natürlich vor allem nachts, als virtueller Treffpunkt diente.
Eine weitere leidenschaftliche Unterstützerin, eine dunkelhaarige Önologin, die bei Gelegenheit einer Weinmesse in Paris auf die Buchhandlung gestoßen war, fragte bei ihrem zweiten Besuch, ob man ihr nicht jeden Monat drei Romane des Sortiments schicken könne, sie wohne weit weg in einem kleinen Dorf inmitten der Weinberge des Jurançon. »Sie treffen die Auswahl«, schlug sie vor. »Die Bücher, die ich bereits kenne, kann ich dann noch einmal lesen oder verschenken.«
Damit gab sie den Anstoß für eine Abonnementsvariante, die in der gesamten französischsprachigen Welt großen Anklang fand, auch in Paris, und die, wie ein freundlicher Herr erklärte – ein Professor am Collège de France, was sie aber erst viel später erfahren sollten –, ziemlich genau einer alten, noch aus der Zeit, als die Verleger zugleich auch Buchhändler waren, stammenden Verlagspraxis entsprach. Oscar verfeinerte das Ganze und entwickelte eine Art Abonnement à la carte. Wenn man sich als Abonnent eintragen ließ, konnte man auswählen, wie viele Romane man wollte und in welchen Zeitabständen, und ob während der gewünschten Abonnementslaufzeit – ein Monat, sechs Monate, ein Jahr – ein bestimmter Autor, ein bestimmtes Jahrhundert oder Land im Vordergrund stehen sollte oder ob ganz im Gegenteil alle Genres, Zeiten und Länder gemischt werden sollten.
Schon im November war klar, dass »Die Freunde des Romans« Begeisterung für einen längst vergessenen Titel wecken konnten, worauf der kleine Bestand des Verlags binnen einer Woche vergriffen war, was wiederum in der darauffolgenden Woche die Einnahmen der im Internet tätigen Antiquare drastisch steigen ließ, bis der Verlag nachdruckte und die Presse endlich eine Eudora Welty oder einen Patrick White neu entdeckte.
Am Ende des Jahres hatten die Verleger ihre Lektion gelernt. Sie setzten einen Praktikanten sechs Stunden am Tag vor den
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