Der Zauber des Engels
Originalbestandteilen zusammenzusetzen. Wer auch immer die Scherben nach dem Bombenangriff zusammengeräumt hatte, er hatte gründliche Arbeit geleistet, auch wenn einige Stellen offenbar so schwer beschädigt gewesen waren, dass sie sich nicht mehr rekonstruieren ließen. Diese Stellen befanden sich in der oberen Gesichtshälfte, im Gras, an der roten Umrandung und an einem Teil des Flügels. Schade, dass wir die Augen nicht gefunden hatten.
»Die Farbe passt zu Raphael«, meinte Amber.
»Engel tragen häufig goldene Gewänder«, murmelte ich.
»Trotzdem. Raphaels Farbe ist Gold«, beharrte Amber. »Manchmal auch Smaragdgrün. Sein Kristall ist der Smaragd und sein Element die Luft. Und er ist einer der Erzengel. Das ist alles, was ich noch weiß. Die Worte sind auch richtig.«
Das Spruchband war ebenfalls ein bisschen kaputt, aber man konnte die Losung »Gott heilt« gut entziffern. Amber seufzte zufrieden. »Der hübsche Engel in eurem Schaufenster gefällt mir am besten, Fran. Der, den dein Dad gemacht hat. Aber der hier ist auch sehr schön.«
»Zum Glück«, antwortete Zac und lächelte sie an. »Kann es sein, dass gerade ein Kunde reingekommen ist?«
»Sie ist süß, nicht?«, flüsterte ich, als Amber im Laden verschwunden war.
»Aber ziemlich naiv.«
»Schon, aber vergiss nicht, was sie alles mitgemacht hat.«
Später, als Amber nach Hause gegangen war, begann Zac im Laden nach Glas zu suchen, das geeignet war, um die fehlenden Teile unseres Engels zu ersetzen. Das Grün für das Gras unter den Füßen war leicht zu finden. Zac hielt ein Stück ans Licht, das dem ursprünglichen Material sehr ähnlich sah und sogar dieselben Einschlüsse und Unreinheiten aufwies, die ihm Schönheit und Patina verliehen. Als Zac es neben das alte legte, bestätigte sich die Ähnlichkeit.
Mit dem rubinroten Glas hatte er mehr Schwierigkeiten. »Der Farbton stimmt einfach nicht«, murmelte er oder: »Das ist zu durchsichtig«, oder: »Das ist viel blasser, siehst du das?« Nachdem wir erfolglos unseren gesamten Vorrat durchforstet hatten, packte er einige Teile des Engels sorgfältig ein, um sie in Davids Studio mitzunehmen. Vielleicht konnte sein Freund ihm einen Tipp geben.
»Wenn du einverstanden bist, fahre ich gleich morgen früh zu ihm«, sagte er, während er seinen Overall auszog und seine Jacke überstreifte. »Vielleicht müssen wir noch Glas extra anfertigen lassen.«
»Okay, dann sehen wir uns nach dem Mittagessen.« Ich spürte seinen Blick auf mir, und dabei wurde mir bewusst, dass unsere Beziehung sich verändert hatte. Wir gingen inzwischen viel entspannter miteinander um, auch wenn ich ihm immer noch übel nahm, dass er so unhöflich zu Ben gewesen war.
»Hast du heute Abend was vor?«, fragte er, und es klang ein bisschen zu beiläufig.
Ich nickte. »Chorprobe.«
»Ah. Dann viel Spaß. Bis morgen.«
Ich sah zu, wie er einsam und allein über den Platz davonging. Plötzlich verspürte ich eine große Traurigkeit. Es war, als hätte ich etwas verloren – ohne je gewusst zu haben, wie viel es mir eigentlich bedeutete.
Die Melancholie ließ mich den ganzen Abend nicht mehr los und schnürte mir die Kehle zu. Ich hatte meinen Vater seit zwei Tagen nicht besucht; auch das war ein Grund. Aber irgendwie kam mir alles so vor, als würde es unter meinen Füßen schwanken – als wäre mein Leben von einem Meteoriten getroffen und völlig verändert worden. Das musste mit meinen wirren Gefühlen für Ben zu tun haben.
Wie konnte ich mein wachsendes Interesse an ihm beschreiben? Ich war wie verzaubert, wie eine der wohlig aussehenden Frauen auf den Bildern von Edward Burne-Jones. Vielleicht hatte es in der Kirche begonnen, mit all dem Weihrauch und dem Lilienduft und der erregenden Orgelmusik, die meine Sinne betört hatte. Ich war fasziniert von seiner Leidenschaft für die Musik und seinem Charisma als Dirigent, von der Art, wie er den Chor zusammenhielt und uns unter seinen Willen beugte. Und er sah so verdammt gut aus. Es war unmöglich, nicht fasziniert zu sein von einem Mann, der aussah wie die weltliche Version eines florentinischen Engels, noch dazu eines köstlich verdorbenen, der so verschwenderisch mit seiner Kunst umging, unter der Oberfläche aber zugleich zart und verwundbar war … Aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er für mich empfand oder ob es eine andere Frau in seinem Leben gab.
Jo nahm heute Abend an der Probe teil, kam aber zu spät, sodass wir nicht zusammensitzen
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