Der Zauber des Engels
Karton kurz an mein erhitztes Gesicht.
Ben und Zac, Zac und Ben. Sie standen für die beiden verschiedenen Seiten meines Lebens. Musik und Kunst, und ich kam weder mit der einen noch mit der anderen zurecht. Am wenigsten dann, wenn sie aufeinandertrafen. Nachdenklich nahm ich die Teetasse und trug sie nach nebenan. Die beiden verharrten in einem finsteren Schweigen, das den ganzen Raum zu erfüllen schien.
»Bitte schön«, sagte ich übertrieben fröhlich, um die schlechte Stimmung etwas aufzuheitern.
Beide sahen mich irritiert an. Wir tranken in unangenehmer Stille, dann stellte Zac seine halb volle Tasse ab und stand auf. Ich war fast ein bisschen erleichtert, als Ben ihm kurze Zeit später folgte.
»Also gut«, versprach ich. »Ich komme morgen zu eurer Besprechung.«
»Super!« Er küsste mich flüchtig auf die Wange und verschwand.
24. KAPITEL
Horcht auf diese Klänge!
Sie stammen von zarten, engelsgleichen Wesen!
Kardinal Newman, Der Traum des Gerontius
»Ich habe schon mal ’nen echten Engel gesehen.«
Als Amber am Montag zur Arbeit erschien, war sie völlig fasziniert von der Rekonstruktion Raphaels. Sie nutzte jede Gelegenheit, ihre eigentliche Beschäftigung zu unterbrechen und mir und Zac bei der Arbeit zuzusehen. Während ich noch immer damit zu tun hatte, das Glas zu reinigen und das Blei zu entwirren, nahm er die Teile, die ich fertig hatte, und legte sie auf das Papier. Dieses wiederum hatte er auf dem großen Leuchtkasten ausgebreitet, eine nützliche Lichtquelle von unten. Wenn er diesen Arbeitsschritt hinter sich gebracht hatte, würde er entscheiden müssen, welche fehlenden Stücke wir mit neuem Glas ersetzten.
»Erzähl uns ein bisschen von deinem Engel, Amber«, bat Zac, während er die Puzzleteile aus Glas hin und her schob. Er sagte das ganz ernst, aber seine Augen blitzten vergnügt.
»Ich weiß, dass ihr euch über mich lustig macht, aber ich habe wirklich einen gesehen. Er hat mir das Leben gerettet.«
Inzwischen hatten wir uns längst an Ambers verrückte Ideen gewöhnt. Ihr persönlicher Schutzengel tauchte mal in dieser, mal in jener Gestalt auf, war aber immer rot, und er war besonders begabt darin, ein Auge auf Waisenkinder zu
werfen, wie sie mir versicherte. Aber diese Geschichte, die Amber uns nun erzählen wollte, kannten wir noch nicht.
»Es war, kurz nachdem meine Mom gestorben war.« Wir hörten beide gespannt zu. »Ich war damals noch völlig benommen, vergaß ständig Sachen, war unkonzentriert und durcheinander. Einmal bin ich, ohne vorher zu schauen, über die Straße gelaufen. Irgendjemand hat mir plötzlich einen heftigen Stoß verpasst, und im nächsten Augenblick saß ich auf dem Gehweg, während ein Auto an mir vorbeiraste. Es hätte mich um ein Haar erwischt. Kaum zu glauben.«
»Wie schrecklich!«, sagte ich und fragte mich, worauf sie hinauswollte. Hatte das Auto sie gestreift und zu Boden geworfen? Oder hatte sie die Gefahr im letzten Moment erkannt und war noch zurückgesprungen?
Sie sah unsere amüsierten Blicke.
»Wenn ich sage, jemand hat mir einen Stoß gegeben, meine ich damit, dass es sich so angefühlt hat. Aber außer mir ist niemand in der Nähe gewesen. Bis auf meinen Schutzengel natürlich.«
»Wie kommst du auf diese Idee?«
»Ich war so erschrocken, dass ich eine Zeit lang auf dem Gehweg sitzen blieb. Und dann habe ich auf einmal Musik gehört, sie kam irgendwo aus der Ferne. Ich schaute auf und sah einen Kerl mit Gitarrenkasten mitten auf der Straße stehen. Überall wirbelten weiße Federn durch die Luft und um mich herum, ein klares Zeichen für einen Engel. Als ich wieder hinsah, war der Typ verschwunden, er hatte sich in Luft aufgelöst. Ich hätte doch sehen müssen, wie er weggeht, wenn er … na ja, wenn er ein Mensch gewesen wäre, oder?«
Zac und ich warfen uns einen vielsagenden Blick zu, und er zog kaum merklich die Brauen hoch.
Da ich Amber nicht verärgern wollte, sagte ich: »Wer auch immer es war, ich bin jedenfalls froh, dass er so gut auf dich aufgepasst hat, Amber.« Kurz überlegte ich, was der Pfarrer zu dieser Geschichte sagen würde. Ich würde ihn danach fragen. Pfarrer mussten sich mit Engeln schließlich auskennen.
»Mit den Teilen, die wir haben, kommen wir nicht weiter«, meinte Zac, und ich war froh, dass er das Thema wechselte. Zu dritt betrachteten wir das Glasmosaik vor uns auf dem Tisch. Es war erstaunlich, was Zac geleistet hatte. Irgendwie war es ihm gelungen, den größten Teil des Bildes aus
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