Der Zauber des Engels
eines größeren Plans sind, der am Ende gut für uns ist.«
»Das klingt aber ganz schön bevormundend. Als würde man uns die Verantwortung für uns selbst abnehmen und uns wie bei Big Brother überwachen.«
»Gott ermuntert uns zu wachsen, aber auch, unsere Grenzen zu erkennen und uns von ihm lenken zu lassen. Wie wäre es, wenn wir ihn als eine Art Big Father betrachteten?«
Seufzend dachte ich an meinen eigenen Vater, der immer distanziert, wenn auch fürsorglich gewesen war, aber keinesfalls fähig, sich auf mich einzulassen.
Jeremy schien mich verstanden zu haben, denn er klopfte mir auf die Schulter. »Stellen Sie sich das eher als eine Art idealisierte Vaterschaft vor. Und denken Sie nicht an einen weltlichen, fehlbaren Vater, auch wenn die Väter ihren Kindern durchaus helfen, erwachsen zu werden und ein freies, verantwortungsbewusstes Leben zu führen.«
»Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass ich bis dahin noch einen weiten Weg zu gehen habe«, antwortete ich, und wir mussten beide lachen.
Am späten Mittwochabend rief Ben an, um sich dafür zu entschuldigen, dass er mich ein paar Tage nicht sehen könne; und danach am Sonntag, um mir zu sagen, dass das Chortreffen nun tatsächlich am Dienstag stattfinden sollte.
»Vielleicht hast du ja Lust, anschließend noch ein bisschen länger zu bleiben«, schlug er vor. »Zu der Besprechung werde ich einen kleinen Imbiss servieren, weil die meisten ja direkt von der Arbeit kommen.«
Ich bot ihm an, etwas früher bei ihm zu sein und bei der Vorbereitung zu helfen.
»Und dann sehen wir uns natürlich noch bei der Chorprobe. Allerdings muss ich anschließend gleich weg, da ich beruflich noch etwas zu erledigen habe. Schade, dass wir uns so lange nicht sehen können, Fran.«
»Finde ich auch«, antwortete ich matt.
Am Montag dachte ich noch einmal an mein Gespräch mit Jeremy zurück, als wir von Gerontius’ Schutzengel sangen, der dessen Seele vors Jüngste Gericht brachte. Ich begriff plötzlich, dass die Aufgabe des Engels nicht darin bestand, die Seele des alten Mannes vor dem gefährlichen Pfad zu bewahren, sondern Gerontius durch die Gefahr hindurchzuhelfen. Vielleicht war es das, was Schutzengel taten: ihre menschlichen Schützlinge durch die Schwierigkeiten des Lebens begleiten, durch die Täler des Schattens des Todes und noch darüber hinaus.
Ben war an diesem Abend sehr viel nachsichtiger mit uns. »Mehr Zuckerbrot als Peitsche«, brummte Dominic in der Pause, aber der Grund wurde bald klar. Offenbar hatte Ben das Gefühl, uns allen ein wenig Honig ums Maul schmieren zu müssen.
»Einige von uns treffen sich morgen Abend, um über die künftige Entwicklung unseres Chors an St. Martin zu diskutieren. Nächste Woche werde ich einen Fragebogen verteilen und euch bitten, ihn auszufüllen. Unter anderem sollten wir darüber nachdenken, wie der Chor heißen könnte. Vielleicht überlegt ihr alle mal, mit welchem Namen wir uns ein besseres Image verleihen könnten. So was wie ›St. Martin’s Singers‹ zum Beispiel.«
Es erstaunte mich, dass Ben die Dinge vorantrieb, noch bevor wir das erste Gespräch hinter uns hatten.
Dann ließ er uns mit den verunsicherten Chormitgliedern allein. »Bis morgen«, rief er mir zu und eilte davon.
Dominic und ich gaben uns anschließend im Pub große Mühe, die Fragen zu beantworten, mit denen die anderen uns bestürmten. Heute Abend wirkte er irgendwie anders als sonst. Jo und ich warfen ihm immer wieder irritierte Blicke zu. Sein Arbeitgeber hatte ihm ein Sabbatjahr genehmigt; anstelle des dunklen Anzugs trug er Jeans und einen hellblauen Kaschmirpulli unter dem Cordsakko. Sein dünner werdendes blondes Haar fiel ihm wirr ins Gesicht.
»Ich finde, heute sieht er besonders süß aus«, flüsterte ich Jo zu.
»Ach, hör mir auf mit Dominic«, antwortete sie, ziemlich erschöpft, wie ich fand.
Am Dienstagabend erschien Crispin, unser Gerontius, ein bisschen zu früh bei Ben und machte sich gleich über die mit Speck umwickelten Pflaumen her, die ich vorbereitet hatte. Sein Adamsapfel hüpfte jedes Mal beim Schlucken auf und ab. Um halb sieben kamen auch Val und der Pfarrer, danach Michael und schließlich Dominic, der sich ein bisschen verspätet hatte. Er war ganz außer Atem, weil er wegen einer ausgefallenen U-Bahn hatte rennen müssen, wirkte aber zwischen all den anderen so normal, dass ich ihm fast um den Hals gefallen wäre.
Es war ziemlich eng in Bens Arbeitszimmer, und alle aßen, tranken und
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