Der Zauber des Engels
Engel.«
»Und der heilige Michael ist …?«
»Einer der Erzengel. Er wird meist mit einem Schwert dargestellt, wie er Satan im Kampf der letzten Tage ersticht. Raphael ist auch ein Erzengel. Und Gabriel. Es sind die Engel, die in der Bibel am häufigsten auftauchen. Die Erzengel waren nämlich die Boten Gottes. Sie hatten den engsten Kontakt zu normalen Menschen wie Tobias und Maria – das könnte der Grund sein, weshalb sie in menschlicher Gestalt porträtiert werden, wie Raphael hier. Aber bei denen, die sie sahen, verbreiteten sie trotzdem Angst und Schrecken.«
»Heißt das, dass Engel in Wahrheit gar nicht unbedingt wie Menschen ausgesehen haben?« So hatte ich noch gar nicht darüber nachgedacht.
»Das weiß man nicht. Vielleicht sind sie nur Luftgeister, die für das Auge unsichtbar sind. In den Visionen der Propheten aus dem Alten Testament, wie zum Beispiel Ezechiel oder Jesaja, werden Engel als wilde Tiere beschrieben, als brennende, fliegende Schlangen, die den Thronwagen Gottes ziehen, oder als riesige lebendige Wesen, die sich gegenseitig Lobpreisungen Gottes zurufen. Ganz anders also, als sie heute dargestellt werden.«
»Eher wie Weihnachtsbaumanhänger«, sagte ich und dachte an die Arbeit von Ambers Mutter.
»Oder Feen.«
»Oder Schutzengel.«
»Ja. Auf jeden Fall haben wir heute stark vereinfachte Engel, die wir an unser überschaubares Schubladendenken angepasst haben. Meine Lieblingsgeschichte, die ich mal im Radio gehört habe, handelt von einem Parkplatzengel. Eine Frau aus Bristol betet jeden Tag zu ihrem Engel, dass er ihr hilft, einen Parkplatz zu finden, damit sie pünktlich zur Arbeit kommt. Und tatsächlich findet sie jeden Tag einen. Fantastisch, oder?« Jeremy lachte kopfschüttelnd, dann wurde er wieder ernst. »Ich will damit nicht sagen, dass es keine Engel gibt. Ich habe selbst keinerlei Erfahrung damit, aber ich kenne Leute, bei denen das anders ist. Vertrauenswürdige Leute, intelligente Leute, die ihre Erlebnisse gründlich hinterfragt haben und trotzdem zu dem Schluss kommen, dass es etwas … Überirdisches geben muss.«
»Aber das klingt in der heutigen Zeit ziemlich albern.«
»Nur weil wir alles wegrationalisieren? Es besteht die Gefahr, dass wir absolut alles in materialistischen Zusammenhängen sehen. Und dennoch gibt es andere Möglichkeiten der Erkenntnis. Gehen Sie durch die Welt, sprechen Sie mit verschiedenen Menschen – ganz gleich, welcher Religion sie angehören und ob überhaupt – über ihre Erfahrungen, und Sie werden feststellen, dass das Universum ein viel größerer und fremderer Ort ist, als wir je begreifen werden. Für mich sind Engel ein Symbol für alles, was sich außerhalb unserer normalen Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft befindet; sie sind Teil des universalen Lobgesangs, der uns ständig umgibt.«
Ich dachte darüber nach. Eigentlich hatte Jeremy meine Frage nicht beantwortet, aber er hatte mir eine neue Sichtweise aufgezeigt.
»Und was soll ich von Ambers Geschichten halten?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Offenbar hat sie in einer extremen Gefahrensituation ein ganz besonderes Erlebnis gehabt. Ob die Federn und die Musik und der schöne junge Mann wirklich waren und miteinander in Beziehung gebracht werden können, weiß man natürlich nicht. Aber Amber glaubt das. Allerdings möchte ich nicht in die Falle tappen, alles für wahr zu halten, was andere Menschen glauben, einfach nur, weil sie es tun.«
»Meinen Sie denn, dass wir alle auf verschiedene Weise zu ein und derselben Sache hingezogen werden?«
»Bis zu einem bestimmten Punkt, ja. Zugleich ist uns die Macht der Vernunft verliehen worden, um unsere Erfahrungen einzuordnen. Ich bin überzeugt, dass wir nicht alles, was uns widerfährt, als Zauber oder Wunder verbuchen sollten. Das klingt erst mal ziemlich egoistisch. Aber überlegen Sie doch mal, kann sich das Universum wirklich so emsig um die Bedürfnisse einer Parkplatz suchenden Mutter bemühen? Ich bin mir da nicht so sicher.«
»Glauben Sie denn, dass wir alle einen Schutzengel an der Seite haben? Der uns auf Schritt und Tritt bewacht und uns leitet, so wie Gerontius?«
»Das ist eine schöne Vorstellung, nicht wahr? Und es gibt durchaus Stellen in der Bibel, die sie stützen. Auch wenn es uns in unserer Kurzsichtigkeit manchmal scheinen mag, als würden unsere Schutzengel in die falsche Richtung blicken. Vermutlich ist es am sichersten anzunehmen, dass unser Leben für Gott wichtig ist, wir aber zugleich Teil
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