Der Zauber des Engels
wollte oder nicht. Wie schnell hatte ich hier Wurzeln geschlagen.
Ich widmete mich wieder den Schaufensterauslagen. Zum Schluss hängte ich Dads Engelbild vorsichtig an den Haken zurück und ging dann nach draußen, um mir das Ergebnis anzusehen. Er hing nicht ganz gerade. Ich ging wieder rein und kniete mich hin, um ihn leicht zu drehen, als mir etwas auffiel, was ich vorher noch nicht gesehen hatte. In den Blumenteppich zu Füßen des Engels war ein kleines verwirbeltes Zeichen eingewebt, kaum sichtbar, sodass man glauben konnte, es handele sich um Laub. Aber es war ein keltischer Knoten. Der gleiche Knoten, den auch Philip Russell benutzt hatte, wenn man Lauras Tagebuch Glauben schenken konnte. Wirklich seltsam. Ich dachte an die Scheibe, an der Dad gearbeitet hatte, als er zusammengebrochen war, und dann fiel der Groschen. Offenbar hatte Dad diesen Knoten schon immer gekannt … denn schließlich gehörte er zur Familie.
Viel später, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, etwas von Ben zu hören, klingelte das Telefon.
»Fran?« Es reichte schon, wenn er meinen Namen in diesem leicht spöttischen Tonfall aussprach.
»Ben?«, antwortete ich in derselben Tonlage, und wir mussten beide lachen.
»Wie geht’s dir?«
»Ich bin ein bisschen müde«, antwortete ich. »Aber jetzt wo du anrufst, fühle ich mich schon viel besser.«
»Das ist gut. Hättest du Lust, heute Abend vorbeizukommen?«
»Der Abend ist doch fast vorüber.« Es war bereits halb zehn.
»Ich bin gerade erst von der Arbeit gekommen. Ein Konzert in der Schule. Von Schülern«, fügte er hinzu.
»Oh. Wie war es?«
»Sehr schön. Die Eltern schienen glücklich, und das ist doch das Wichtigste, oder?«
»So kann man es auch betrachten.«
»Also, was ist? Kommst du?«
»Ja«, sagte ich leise, und es waren genau die Worte, die ich eigentlich schon die ganze Zeit über hatte sagen wollen.
»Noch mal danke, dass du mich gestern Abend gerettet hast.«
»Die Jungfer in Bedrängnis liegt mir stets am Herzen.«
»Du warst sehr ritterlich und hilfsbereit.«
»Danke. Ist das Fenster wieder repariert?«
»Hm.« Wir standen in seiner Küche, und ich trank einen großen Schluck von dem Rosé, den er mir eingeschenkt hatte. Er war so süß, dass ich ihn runterstürzte wie Fruchtsaft.
»Hast du schon was von der Polizei gehört?« Ben fuhr mit der Fingerspitze über den Rand des Glases.
»Nein, keinen Ton.«
»An deiner Stelle würde ich es abhaken. Schließlich ist nichts gestohlen worden. Sicher waren es irgendwelche Kinder.«
»Es gefällt mir trotzdem nicht, Ben. Es ist nicht nur ein Geschäft, es ist auch mein Zuhause, und ich fühle mich angegriffen. Amber glaubt, dass ein Mädchen aus dem Heim es getan hat. Aber ich weiß es nicht so recht. Es könnte jeder gewesen sein.«
»Du Ärmste.« Er umarmte mich kurz mit seinem freien Arm.
Wir waren gerade auf dem Weg nach oben ins Wohnzimmer, als Ben sagte: »Ach, ich hätte es fast vergessen. Wir brauchen noch einen Termin für den Beirat. Ich schaue mal gerade in meinem Kalender.« Ich hatte halbwegs gehofft, er hätte die Angelegenheit vergessen, aber jetzt konnte ich mich nicht mehr aus der Affäre ziehen.
Ich setzte mich im Musikraum an den Flügel, während er in seinem schwarzen Taschenkalender blätterte. Im Notenständer befand sich ein Heft mit Duetten, und ich klimperte ein bisschen herum, während er vor sich hinmurmelte: »Morgen, nein. Freitag Kirchenchor, dann bin ich am Wochenende unterwegs … Mist, nach dem Chor geht es auch nicht. Es ginge nur am Dienstag.« Er drehte sich zu mir. »Ich muss erst noch die anderen fragen, aber lass uns mal Dienstag am frühen Abend festhalten.«
Ich nickte. »In Ordnung.«
Er setzte sich zu mir an den Flügel. »Auf vier«, befahl er, und wir begannen gemeinsam zu spielen. Er war natürlich perfekt, während es bei mir ein bisschen holprig klang.
»Das liegt am Wein«, meinte ich, als mein Timing nach der Hälfte der Seite völlig versagte.
»Egal, spiel weiter, der Wein macht dich locker.« Er spielte weiter, aber ich stand kopfschüttelnd auf, um ihm mehr Platz zu machen.
Als Nächstes begann Ben mit einem Stück, das ich nach kurzer Zeit als Chopins sogenanntes Regentropj en-Prélude identifizierte. Und dann passierte auf einmal etwas Seltsames … Es kam mir so vor, als hörte ich die Musik in Stereo. Irgendwas drängte sich mir plötzlich ins Bewusstsein, der Widerhall eines längst Vergangenen, und es hatte mit Laura und
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