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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Hore
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Jos Aufmerksamkeit beanspruchte. Nachdem sie uns gegenseitig vorgestellt hatte, saß ich schweigend daneben, während sie plauderte, und tat so, als würde ich mich auf die mir vertraute Musik einstimmen. Den faszinierenden Ben, der inzwischen das Podium bestiegen hatte und seinen Notenständer justierte, ließ ich dabei keinen Moment aus den Augen.
    Die Leute in dem vollen Saal schien er nicht wahrzunehmen, als er ungeduldig in seinen Noten blätterte, versunken ein paar Takte schlug und hier und da ein paar kleine Bleistiftnotizen aufs Blatt kritzelte. Jackett und Krawatte hatte er abgelegt, das Hemd geöffnet und die Ärmel aufgekrempelt – jetzt sah er wieder so jungenhaft aus wie vorhin. Das wellige Haar kringelte sich über den hochgeschlagenen Hemdkragen und schimmerte goldblond auf dem weißen Stoff.
    Nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Klavierspieler, einem grauhaarigen Mann, den Jo mit Graham angesprochen hatte, war Ben plötzlich bereit. Er stand ruhig da und begrüßte ein paar Zuspätkommende, die sich nach hinten schlichen, mit einem Stirnrunzeln. Dann begann er zu sprechen. Ich hörte nur mit halbem Ohr auf die Worte, denn die Klangfarbe seiner weichen, musikalischen Stimme, die Art, wie er die Konsonanten präzise über die Lippen brachte, schlug mich in den Bann. Er wirkte unglaublich elegant und selbstsicher.
    »Also. Der Traum des Gerontius «, begann er, und alle wurden mucksmäuschenstill. »Wir haben insgesamt nur zwölf Proben, das heißt, wir müssen zügig arbeiten. Falls also jemand mit dem Gedanken spielen sollte, eine Probe zu schwänzen, dann ist meine Botschaft eindeutig: Nein! Für uns ist das ein großes Konzert, und ich verlange nichts weniger als völlige Hingabe.« Er sah sich im Raum um, aber niemand schien sich an seinen klaren Worten zu stören. Im Gegenteil. Die meisten nickten ernst.
    »Wer von euch hat das Stück schon mal gesungen?« Er überflog die erhobenen Hände. »Ein Viertel ungefähr. Gut. Für diejenigen, die es nicht kennen, es ist Elgars berühmtestes Oratorium. Neben Messias und Elias ist es sogar eines der bekanntesten Oratorien überhaupt. Das bedeutet, dass es dem Publikum vertraut ist und dass es hohe Erwartungen an unsere Aufführung richten wird.
    Vielleicht interessiert ihr euch für den Hintergrund. Gerontius wurde 1900 zum ersten Mal aufgeführt. Elgar hatte sein ganzes Herzblut in die Komposition gelegt, all sein Können. Er hat einmal geschrieben, dass es das Beste von ihm sei. Leider geriet die erste Aufführung aus verschiedenen Gründen zu einer Katastrophe, was ich ganz sicher nicht wiederholen möchte.« Ich bewunderte Bens rhetorisches Geschick. Er wartete nicht ab, bis das Gelächter verstummte, sondern redete einfach weiter. » Der Traum des Gerontius ist die musikalische Inszenierung eines berühmten Gedichts von Kardinal Newman. Es handelt von einem Mann, der die Grenze ins Reich des Todes überschreitet und somit die schwierigste aller Heldenfahrten antritt.« Er hielt kurz inne.
    »Okay. Wir beginnen auf Seite elf mit dem Kyrie. Semichorus. Hebt bitte die Hände, damit ich euch sehen kann. Gut. Crispin«, er zeigte auf einen großen schmalen Tenor mit langem Hals, »hat sich freundlicherweise bereit erklärt, während der Proben den Gerontius zu übernehmen. Ansonsten freue ich mich, euch mitteilen zu können, dass ich meinen Freund Julian Wright dazu überreden konnte, beim Konzert die Rolle zu singen, und zwar für einen Bruchteil seines sonst üblichen Honorars.« Beifälliges Gemurmel wurde laut – kein Wunder, denn es war ein echter Glückstreffer, den renommierten Tenor Julian Wright für den Part zu gewinnen.
    »Im orchestralen Prélude führt Elgar eine Reihe Leitmotive ein. Es ist wichtig, dass ihr sie kennt und im Ohr habt. Daher möchte ich Graham bitten, die Prélude als Erstes einmal komplett durchzuspielen.«
    Gericht, Furcht, Gebete, Schlaf und Verzweiflung. Während Graham ein Thema nach dem anderen anspielte, erinnerte ich mich wieder an die einzelnen Phasen, die Gerontius auf seinem Sterbebett durchlebt, während wir, der Chor, zu Gott sangen und ihn um Gnade anflehten. Crispin führte den Semichorus an, zögernd zunächst, aber dann zunehmend sicherer, bis mich die Schönheit der gewaltigen Musik überrollte und gefangen nahm. Die zwei Stunden vergingen wie im Flug.
    Am Ende bat Ben alle Neuen, die gern vorsingen wollten, noch zu bleiben. Ich und die zweite Kandidatin, eine Jamaikanerin mittleren Alters, warteten am

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