Der Zauber des Engels
mitzukommen, vielleicht war so ein Chor doch nicht das Richtige für mich.
Sobald es nicht mehr unhöflich wirkte, stand ich auf, um mich zu verabschieden. Ich umarmte Jo und versprach ihr, sie diese Woche noch anzurufen. Als ich schon fast aus der Tür war, spürte ich, dass mich jemand an der Hand berührte. Es war Ben. Überrascht fragte ich ihn, ob er auch ginge; aber nein, er war extra gekommen, um mir auf Wiedersehen zu sagen.
»Bis nächste Woche, oder?« Wieder dieser durchdringende Blick.
»Natürlich«, brachte ich mühsam hervor. Merkwürdig, aber meine Zweifel am Chor waren plötzlich verflogen. »Du hast uns ja geraten, keine Proben zu versäumen.«
»Sehr gut.« Seine Stimme klang warm. »Schön, dass du mitmachst. Mach’s gut.«
Der kurze Heimweg beruhigte mich, aber ich war froh, dass ich allein war. Doch wie immer stürzten in der Wohnung tausend Gedanken auf mich ein. Ich legte mich aufs Bett und dachte an Dad, der wahrscheinlich längst schlief. Ein alter Mann in Gesellschaft eines anderen alten Mannes in der schimmernd weißen Sterilität eines Krankenhauses. Ich dachte an die Fenster der St.-Martin’s-Kirche, an Jo, an die lärmende Gruppe, mit der ich an diesem Abend kurz zusammen gewesen war. Ohne dass ich irgendetwas unternommen hatte, schien sich ein neues Leben um mich herum zusammenzubrauen; es riss mich einfach in seinen Sog hinein. Und ich war mir nicht sicher, wie ich das finden sollte.
Als ich endlich einschlief, träumte ich, ich läge in den Armen eines majestätischen Engels, der hoch über der Stadt schwebte. Unter uns waren funkelnde Lichter zu sehen, der Fluss, der sich wie eine glänzende Schlange im Mondlicht wand, die silbrigen Kirchtürme, die glitzernden Fassaden der hoch aufragenden Bürohäuser. Das alles lag ausgebreitet unter mir – wir aber flogen so weit oben, dass außer dem rhythmischen Schlagen der Flügel kein Geräusch mehr zu hören war.
6. KAPITEL
Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.
Brief an die Hebräer 13,2
Als Teenager bin ich, wenn ich nicht Musik geübt oder meinem Vater im Geschäft geholfen habe, häufig in der Tate Gallery gewesen. Sie heißt heute Tate Britain und liegt nur ein paar Straßen weiter südlich in Richtung Themse. Mein Lieblingsraum war der, in dem die Präraffaeliten und die Gemälde aus dem späten 19. Jahrhundert hängen, und mein liebstes Bild war natürlich eins von Edward Burne-Jones: König Kophetua und das Bettlermädchen . Es zeigt das Bettlermädchen, das in einem holzgetäfelten Boudoir sitzt und den Betrachter anstarrt. Trotz der Lumpen, in die sie gekleidet ist, ist sie von der Aura einer Königin umgeben. Unter ihr auf einer Stufe sitzt der gut aussehende König, mit der Krone im Schoß, und schaut sie voller Bewunderung an. Aber sie würdigt ihn keines Blickes. Stattdessen hält sie einen Strauß Anemonen in der Hand und sagt ihm auf diese Weise, dass sie seine Liebe nicht erwidert.
Diese dramatische Geste unerwiderter Leidenschaft hat in mir so tiefe Gefühle aufgewühlt, dass ich in dem Buch über Burne-Jones, in dem das Foto meiner Mutter versteckt war, alles über das Bild nachgelesen habe.
Es basiert auf einer alten Legende über einen König, dem die unsterbliche Liebe zu einem schönen Bettlermädchen wichtiger war als all seine Macht und sein ganzer Reichtum. Burne-Jones ist vermutlich durch die Lektüre von Tennysons Gedicht Das Bettlermädchen auf die Geschichte gestoßen, die er dann in eine Umgebung gemalt hat, zu der ihn ein italienisches Gemälde aus dem 15. Jahrhundert inspiriert hat. Angeblich hat er das Bild nach einer schwierigen Phase in seiner Ehe geschaffen; manche behaupten, der König selbst sei der Künstler – und das Bettlermädchen Georgiana seine Frau, die er mit der hinreißenden Schönheit Mary Zambaco betrogen hatte. Andere wiederum glauben, dass es sich bei dem Mädchen um Frances Graham handelt, ein Mädchen, mit dem Burne-Jones eine innige romantische Freundschaft verband und die zu seinem Verdruss 1883, während seiner Arbeit an dem Bild, heiratete. War das Gemälde vielleicht Ausdruck seiner Gefühle angesichts des Verlusts von Frances?
Ich habe mir damals ein Poster von Kophetua gekauft und es über mein Bett gehängt. Damals betrat mein Vater aus Respekt vor meiner Privatsphäre nur noch selten mein Zimmer. Einmal kam er doch herein, und zwar, um mir eine Zeitschrift zu bringen, die mit der Post gekommen
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