Der Zauber des Engels
Klavier, bis Ben zu uns kam. Die Jamaikanerin sang als Erste, sie hatte eine reiche Altstimme.
»Wunderbar, Elizabeth«, lobte Ben. »Sie sind eine begnadete Sängerin.«
Sie nickte erfreut, flüsterte mir »Viel Glück« zu und verschwand dann, um ihren Zug zu erreichen.
»Sehen wir uns gleich im The Bishop? «, rief Dominic, als er mit Jo verschwand. Sie winkte mir zu. »Du kommst doch mit, oder, Fran?«
Und dann waren Ben und ich plötzlich allein. Er spielte ein paar Akkorde auf dem Klavier an, und ich trällerte mich durch eine Folge von Arpeggios.
»Sorry, irgendwie habe ich gerade einen Frosch im Hals«, haspelte ich. »Aber das geht sicher jedem so, oder?« Ben lächelte bloß und blätterte in einem Buch mit Stimmübungen.
»Versuch mal das hier«, meinte er und reichte es mir. Ohne zu warten, bis er den Takt am Klavier vorgab, sang ich die Passage, die er mir gezeigt hatte, fehlerlos.
Er sah mich überrascht an. »Bist du Musikerin?«
»Blechbläserin. Die Tuba ist mein Hauptinstrument.«
»Das ist ja ungewöhnlich.« Ich war froh, dass er nicht »für eine Frau« hinzufügte. Denn die meisten taten das und krönten es noch mit »vor allem für so eine kleine«, als wäre ich mit meinen eins sechzig ein Zwerg.
»Ich habe damals mit dem Waldhorn angefangen«, erzählte ich ihm. »Aber dann hat mir an der Musikhochschule jemand seine Tuba geliehen, und ich fand das viel einfacher. Das breitere Mundstück war mir wesentlich angenehmer.«
Sein Blick ruhte ganz kurz auf meinen Lippen. Hastig redete ich weiter. »Außerdem finde ich, dass die Tuba als Orchesterinstrument viel besser zur Geltung kommt.«
»Der Klang stützt alles andere, stimmt’s?«
»Genau.«
»Für wen spielst du denn?«
Ich zählte einige Orchester auf, die mich bereits engagiert hatten.
Er nickte beeindruckt. »Du hast eine sehr schöne Stimme. Ich würde mich freuen, wenn du uns verstärken würdest.« Ben begann, seine Bücher in einer altmodischen Aktentasche zu verstauen. Wieder trafen sich unsere Blicke, und ich hatte das unangenehme Gefühl, als würde er tief in meine Seele blicken. »Kommst du noch mit auf einen Drink? Ich muss nur schnell ein bisschen aufräumen.«
Ich wartete, bis er abgeschlossen hatte.
»Ich bin der neue Organist von St. Martin’s«, erklärte er mir, als ich ihn auf dem Weg zum Bishop Pub in der Rochester Row fragte, was er sonst noch so mache. »Die Chorleitung gehört zu meiner Aufgabe. Ansonsten bin ich Pianist und unterrichte Privatschüler an einer Schule hier in der Nähe.«
Er hatte eine nette Art zu sprechen, ganz anders als vorhin auf dem Podium in seiner Rolle als Dirigent. Ein Hauch Arroganz blieb zwar, und es machte mich ziemlich nervös, wie er mich ansah, aber er wurde mir zunehmend sympathischer.
»Wie kommt es denn, dass Jo dich mitgebracht hat?«, fragte er, und ich erklärte ihm, dass ich erst kürzlich nach London zurückgekehrt und ihr ganz zufällig in die Arme gelaufen sei.
»Meinem Vater gehört das Glaskunst-Geschäft am Greycoat Square«, sagte ich. »Ich habe mir heute Nachmittag die Fenster in der Kirche angesehen.«
»Ah, dann hast du also Jeremy Quentin getroffen.« Er nickte. »Wie findest du ihn?«
»Er ist … sehr nett. Oder nicht?«
»Ja, schon.«
Es klang nicht unbedingt begeistert, und ich fragte mich, ob hinter seinen Worten noch etwas anderes steckte. In diesem Moment hatten wir den Pub erreicht.
Er hielt mir die Tür auf, und als ich an ihm vorbeiging, berührte er mich zufällig am Arm. Dann befanden wir uns schon mitten zwischen den anderen Chormitgliedern, die uns freundlich begrüßten.
Ben sah ich kaum noch an jenem Abend. Nur einmal erblickte ich ihn kurz, als er mit zwei anderen Männern an der Theke stand, eine große, würdevolle Gestalt, tief in ein lebhaftes Gespräch verstrickt.
Irgendjemand aus einer Gruppe, die an einem großen Tisch saß, rückte ein Stück, damit ich mich neben Jo in die Ecke quetschen konnte. Dominic stand sofort auf, um mir ein Glas Wein zu besorgen.
Da saß ich nun wieder inmitten einer Horde freundlicher Menschen, die mich jedoch, abgesehen von Jo, am Ende des Abends wieder vergessen haben würden. So viele Leute, alle redeten wild durcheinander und stellten mir immer wieder dieselben Fragen – woher ich Jo kannte und was ich von ihrem Chor hielt. Es war ziemlich anstrengend. Außerdem schmeckte der Wein säuerlich, und ich sehnte mich danach, allein zu sein. Vielleicht war es ein Fehler gewesen
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