Der Zauber des Engels
versammelten wir uns noch einmal in der Marienkapelle.
Reverend Quentin sah uns an: »Ich habe mir etwas überlegt. Die Kirche hat kürzlich eine Spende erhalten, die wir für die Reparatur des zerstörten Fensters verwenden könnten. Kirchenfenster sind wichtig. Im Gottesdienst und bei der Anbetung können sie mit ihrer Farbenpracht eine nicht zu unterschätzende Hilfe sein. Im Mittelalter soll das bemalte Glas bei manchen Gläubigen sogar ekstatische Visionen ausgelöst haben.«
Ich warf einen Blick auf die Jungfrau mit dem Kind, dachte noch einmal an den Ausdruck der Todespein auf dem Kreuzigungsfenster, daran, wie jede Szene für sich genommen eine jeweils andere Seite der allumfassenden göttlichen Liebe darstellte. Ich verstand, was er meinte. Niemand konnte beim Anblick dieser Kunstwerke unberührt bleiben.
»Es wäre jedenfalls wunderbar, wenn Sie den Karton mitnehmen würden«, schlug Jeremy vor. »Schauen Sie sich an, ob Sie was damit anfangen und erkennen können, was das Ganze überhaupt darstellen sollte. Wenn Sie eine Restauration für möglich halten, müssen wir natürlich erst den Pfarrgemeinderat und die Diözese informieren. Wenn es um Kircheneigentum geht, sind die bürokratischen Hürden nicht zu unterschätzen …« Er brach ab und blickte wieder auf den Karton. Vermutlich dachten wir in diesem Moment alle das Gleiche: Würde sich der ganze Aufwand lohnen? Konnten wir diesen Scherbenhaufen tatsächlich wieder in ein Fenster verwandeln, das in seiner ganzen Schönheit erstrahlte?
»Also, wir werden auf jeden Fall recherchieren, was es gewesen ist«, sagte ich schließlich. »Danach sehen wir weiter.«
»Gut.« Jeremy Quentin nickte.
»Sie haben nichts zur Hand, was uns dabei helfen könnte, oder? Bilder zum Beispiel oder alte Kirchenführer.«
»Nicht dass ich wüsste. Aber ich werde mich noch einmal auf die Suche machen«, versprach der Pfarrer.
Ich versuchte mir vorzustellen, was unter Umständen inmitten der Akten auf Dads vollgestopftem Dachboden zu finden wäre. Nicht gerade ein erheiternder Gedanke, die Papierhaufen durchwühlen zu müssen.
Zac schaute auf seine Armbanduhr und räusperte sich vernehmlich. »Fran, was meinst du, haben wir für heute genug gesehen?«
Ich nickte, daraufhin bückte er sich, verschloss den Karton und versuchte, ihn hochzuheben.
»Um Gottes willen, tun Sie das nicht«, rief der Pfarrer. »Wir haben ihn zu zweit hierhergetragen.«
»Ich habe nur Angst, dass er reißen könnte«, sagte Zac. »Wissen Sie was? Ich komme morgen mit unserem Lieferwagen.« Die beiden Männer vereinbarten einen Termin, dann schoben sie die Kiste wieder unter den Altar, und der Pfarrer zog das Tuch darüber glatt.
»Dann verabschiede ich mich jetzt«, sagte Jeremy. »Ich habe noch etwas in der Sakristei zu erledigen.«
Es war bereits nach sechs, und wir hatten mitbekommen, dass sich am Eingang etwas regte. Leute kamen herein und gingen in den Pfarrsaal nebenan.
Als Zac und ich das Gebäude verließen, sagte er plötzlich: »Geh schon mal vor, Fran. Ich habe mein Notizbuch liegen lassen.« Rasch lief er noch einmal in die Kapelle zurück.
Ich ging zur Tür, um zu sehen, was da draußen los war. Der Pfarrsaal war voller Menschen. Irgendjemand spielte ein paar Akkorde auf einem Klavier. Mich bemerkte niemand.
»Dominic sammelt den Mitgliedsbeitrag ein. Er ist unser Finanzchef«, erklärte ein rotgesichtiges Mädchen einem anderen. »Dafür besorgt er uns die Noten. Ich finde, Der Traum ist so ein schönes Stück.«
Das musste der Chor sein, von dem Pfarrer Quentin gesprochen hatte. Offenbar probten sie Der Traum des Gerontius , eines der berühmtesten Oratorien von Elgar. Es gehörte zu meinen Lieblingsstücken, genau wie sein Cello-Konzert. Interessiert trat ich einen Schritt näher.
»Franny, bist du es wirklich?«
Erstaunt drehte ich mich um. Eine junge Frau mit strubbeligem blonden Haar, lässiger Cargohose und engem Top kam gerade herein. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber diese Stimme hätte ich überall erkannt. Niemand sonst hatte mich jemals Franny genannt.
5. KAPITEL
Neben jedem Menschen, der auf Erden geboren wird, nimmt ein Schutzengel seinen Platz ein, um ihn durch die Irrungen des Lebens zu geleiten.
Menander
»Jo! Was machst du denn hier?«
Ich sah das vertraute Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erstrahlen ließ, und es kam mir vor, als hätte ich sie erst gestern das letzte Mal gesehen.
Leute drängten sich an uns vorbei und schimpften, dass wir
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