Der Zauber des Engels
war. Fassungslos starrte er auf das Bild an der Wand. Als ich ihn fragte, was los sei, keuchte er bloß: »Nichts!«, und wie immer schaltete er innerlich vollkommen ab.
Als ich am nächsten Tag aus der Schule nach Hause kam, war das Poster verschwunden. Auch wenn das vielleicht unverständlich klingt, ich habe Dad gegenüber nie ein Wort darüber verloren. Ja, natürlich war ich überrascht und auch wütend, besaß aber trotz meiner pubertären Selbstsüchtigkeit so viel Feingefühl, dass ich begriff, wie schrecklich traurig das Plakat ihn gemacht haben musste. Also biss ich mir auf die Lippen und nahm es hin.
Am Tag nach unserem Besuch bei Jeremy Quentin kam Zac um neun Uhr in den Laden, machte sich jedoch nicht die Mühe, die Jacke auszuziehen.
»Muss heute Vormittag ein paar Fenster einpassen«, sagte er. »Kannst du mir helfen, sie in den Wagen zu tragen?«
»Klar.« Das bedeutete, dass ich alleine für den Laden verantwortlich sein würde. Aber ich beklagte mich nicht, sondern half ihm, die beiden Fenster mit den Pfauenmotiven, die er zum Trocknen in die Garage im Hof gestellt hatte, hinauszutragen, sie noch einmal zu polieren und einzupacken. Dann fuhr er rückwärts aus dem Hof, ich schloss das Garagentor hinter ihm und ging zurück in den Laden.
Es war ein wunderschöner sonniger Morgen. Früher hätte ich an einem Tag wie diesem meine Musikübungen geschwänzt; jetzt zwang ich mich, im Laden zu sitzen und Sonnenfänger zu bauen. Gestern hatten wir eine Libelle und eine Fee aus dem Schaufenster verkauft; mithilfe von Dads altem Musterbuch konnte ich sie leicht kopieren. Ich schnitt einfache Formen aus Glas, säumte sie mit Kupferfolie, lötete sie zu Feen, Vögeln oder Schmetterlingen zusammen und versah sie mit einer Kupferschlinge zum Aufhängen. Das Ganze ging mir so leicht von der Hand, dass es sich fast wie eine meditative Übung anfühlte.
Nachdem ich meine Sonnenfänger im Schaufenster arrangiert hatte, schaute ich mich um. Im hellen Sonnenlicht sah plötzlich alles so staubig aus. Also suchte ich mir einen Pinsel und ein weiches Tuch und machte mich ans Staubwischen. Ich unterbrach meine Arbeit nur einmal, um eine unentschlossene Kundin zu überreden, zwei Lampenschirme mit Mohnblütenmuster als Hochzeitsgeschenk für ihre Nichte zu kaufen.
Offensichtlich war der Laden schon ewig nicht mehr gründlich gereinigt worden, denn die Luft war bald voller Staub, den ich aufgewirbelt hatte. Hustend öffnete ich die Tür, um zu lüften, ehe ich damit begann, die Ausstellungsstücke im Schaufenster der Reihe nach herauszunehmen und ebenfalls zu entstauben. Als ich das hübsche Engelsbild in der Hand hielt, schaute ich zufällig auf und blickte geradewegs in ein dunkles Augenpaar, das ich nicht kannte. Es war das herumlungernde Mädchen, das ich vor ein paar Tagen schon einmal gesehen hatte. Doch dieses Mal wirkte sie nicht so scheu, sondern eher aufgeregt: Noch ehe ich den Engel auf die Theke gelegt hatte, stand sie bereits in der offenen Tür.
»Hallo«, sagte ich freundlich. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Sie wollen den Engel doch nicht verkaufen, oder? Bitte, Sie dürfen ihn nicht verkaufen.« Ihre Stimme zitterte, und ihre dunklen Augen sahen mich flehend an.
»Nein, ich mache ihn nur sauber«, beruhigte ich sie.
»Ah, dann ist es gut. Ich dachte schon …« Sie lächelte so süß und unwiderstehlich, dass ich zurücklächelte. Es war schwer, ihr Alter zu schätzen, siebzehn oder achtzehn vielleicht. Auf jeden Fall war sie unglaublich zart und zerbrechlich. Unter ihren aufmerksamen Blicken legte ich den Engel auf die Ladentheke und begann, ihn vorsichtig zu reinigen.
Nachdem es nun einmal im Laden war, schien das Mädchen unschlüssig, ob es gehen oder bleiben solle. »Der Engel gefällt Ihnen, nicht wahr?«, sagte ich schließlich. »Er ist wirklich sehr schön. Mein Dad hat ihn gemacht. Wenn Sie sich die Figur genauer ansehen wollen, dann kommen Sie nur.«
Ihre frühere Schüchternheit war zurückgekehrt, sodass sie nur zögernd näher trat. Staunend betrachtete sie die Spiegel und Lampenschirme und die Regale voller Glas; ein bisschen erinnerte sie mich an Alice im Wunderland. Dann kam sie auf Zehenspitzen zur Ladentheke. Vorsichtig hob ich das Glasbild und hielt es so, dass das Licht darauffiel. Gemeinsam betrachteten wir den Engel.
Es war eine weibliche Gestalt in weißer, rosa und goldener Kleidung und mit rosa Flügelspitzen. Das karamellbraune Haar fiel ihr in das herzförmige Gesicht,
Weitere Kostenlose Bücher