Der Zauber des Engels
den Weg versperrten, bis wir schließlich hinausgingen. Ein oder zwei Sekunden lang schauten wir uns nur an, ein bisschen unsicher, doch dann streckte sie die Arme aus. Ich ließ mich in die Umarmung fallen und drückte sie fest an mich. Erstaunlich, wie gut es tat, sie wiederzusehen, vor allem weil ich gestern Abend so gezögert hatte, sie anzurufen.
»Du hast dich kein bisschen verändert«, sagte ich und ließ den Blick ausgiebig über sie schweifen. Die Worte waren leicht dahingesagt, aber in diesem Fall absolut zutreffend: dieselbe rundliche Figur, dasselbe strubbelige hellblonde Haar, das jeder Bürste und jedem Festiger widerstand, dasselbe ungeschminkte Sommersprossengesicht – kurz gesagt, dieselbe Jo.
»Du auch nicht«, antwortete sie weniger überzeugend. Wir wussten beide, dass ich vor zwölf Jahren, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, ganz anders gewesen war, nämlich ein schüchternes, unsicheres Mädchen mit abgekauten Fingernägeln, das sich nur für Musik und Kunst interessierte und sich scheute, Fremden gegenüber den Mund aufzumachen. Und nun … na ja, in diesen zwölf Jahren hatte ich verdammt viel gelernt – auch wenn ich immer noch an den Nägeln kaute.
»Was machst du so?«, fragte sie mich. »Das Letzte, was ich von dir gehört habe, war, dass du auf die Musikhochschule gegangen bist. Dein Dad hat mir erzählt, wie gut du warst.«
Schuldbewusst erinnerte ich mich daran, dass sie mir von der Universität Briefe und Postkarten geschickt hatte, von denen ich nicht eine einzige beantwortet hatte. Auf welcher Uni war sie noch gewesen? Sussex? Keine Ahnung. Ich wusste bloß noch, dass sie Sozialpädagogin werden wollte. Jo war immer eine gewesen, die für andere da sein und Gutes tun wollte.
»In all den Jahren war ich ein- oder zweimal bei euch im Laden«, erzählte sie, und ihre unschuldigen blauen Augen durchbohrten mich mit einem Blick, »aber dein Dad hat mir jedes Mal gesagt, du wärst nicht da.«
»Ich war freiberuflich unterwegs, habe für verschiedene Orchester gespielt, die eine Tuba brauchten«, erklärte ich ihr. »Ich schätze, ich bin mit meinem Instrument einige Male um die Welt gereist.«
»Na, das erklärt natürlich alles.« Sie zuckte mit den Schultern. »Du warst ja immer gern auf Reisen.«
In diesem Moment drängte sich Zac durch die Menge zu uns. Er sah Jo, sah, dass wir uns unterhielten, und sagte nur: »Bis morgen.« Dann entfernte er sich in Richtung Vauxhall Bridge Road, seine Werkzeugtasche hatte er über die Schulter geschlungen.
»Wer war das?«, fragte Jo neugierig.
»Ach, nur Zac«, antwortete ich. »Ein Angestellter von Dad. Der Pfarrer hat uns gebeten, die Kirchenfenster anzusehen. Was machst du denn inzwischen so?«
»Ich arbeite im St.-Martin’s-Heim.« Es war das Heim für junge obdachlose Frauen, von dem Jeremy Quentin gesprochen hatte. »Ich bin dort Gruppenleiterin.«
»Wohnst du auch dort?«
»Oh nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre zu viel. Ich wohne immer noch in der Wohnung von Mom und Dad. Sie haben inzwischen ein Haus in Kent, wollten die Wohnung in den Rochester Mansions aber behalten, weil Dad immer noch regelmäßig in London ist. Eigentlich bin ich zu alt, um noch in der Wohnung meiner Eltern zu wohnen, aber bei meinem Gehalt ist das durchaus sinnvoll.«
»Ich bin auch wieder zu Hause«, antwortete ich und erzählte ihr von Dads Krankheit.
»Oh Gott, das ist ja schrecklich!« Das Mitgefühl in ihrer Stimme traf mich unvorbereitet. »Wenn ich irgendwas für dich tun kann …«
»Danke«, erwiderte ich unbeholfen.
Irgendwer hinter uns rief etwas. »Ist das da drüben nicht der neue Chorleiter?« Wir verdrehten den Hals, weil es ziemlich voll war, aber ich wusste nicht, nach wem wir überhaupt suchten.
»Es tut mir leid, Fran«, sagte Jo. »Unser neuer Chorleiter ist da. Ich muss meine Noten zusammensuchen.«
»Was ist das für ein Chor?«
»Die Chorgemeinschaft St. Martin’s. Ich bin erst seit zwei Jahren dabei, aber es macht mir riesigen Spaß. Wir geben zwei Konzerte im Jahr. Das nächste findet im Dezember statt. Ben ist der neue Leiter, der alte ist in Rente gegangen. Hey, vielleicht willst du sogar mitmachen? Wir proben gerade Der Traum des Gerontius , und ich weiß, dass wir noch einen Sopran suchen. Du singst doch Sopran, oder?«
»Ja, stimmt. Aber ich bin nicht sicher, ob ich das im Moment packe.« Dabei klang es ziemlich verlockend. Ich war zwar Instrumentalistin, aber ich sang schrecklich gern. »Ich
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