Der Zauber des Engels
Sie überholten einen Jungen mit einem struppigen Welpen an der Leine, und sie musste gleich an das verunsicherte Löwenjunge denken, das in einer Welt gefangen war, in die es nicht hineingehörte. Wie das Cooper-Baby, dessen Aufenthalt auf dieser Erde vielleicht nur kurz war. Auf dieser Welt schien es mehr Leid zu geben, als man ertragen konnte.
Lauras Vater war der Reverend James Brownlow, und die Familie bewohnte seit acht Jahren das Pfarrhaus von St. Martin’s am Greycoat Square. Der Platz selbst war ruhig und hell, mit einer kleinen Grünanlage in der Mitte, wo im Sommer Kindermädchen Babys spazieren fuhren und Kinder im Gras tollten. In der Nachbarschaft lebten Ärzte, Rechtsanwälte, Geschäftsleute und der eine oder andere Parlamentsabgeordnete, von denen die meisten jedoch die modernere St.-Mary’s-Kirche auf der anderen Seite des Platzes besuchten. St. Martin’s hingegen war schon vor dreißig Jahren vor allem für die Armen gebaut worden. Die Kirche lag abgewandt von den eleganten Stadthäusern am Platz, in Richtung des Armenviertels zwischen Old Pye Street und Duck Lane, das zwar Stück für Stück saniert wurde, was aber für Menschen wie die Familie Cooper viel zu langsam ging.
Während Laura sich ihr Arbeitskleid auszog und angesichts der Schmutzflecken und des Geruchs die Nase rümpfte, warf sie einen Blick aus ihrem Schlafzimmerfenster. Ein kleiner Junge tippelte an der Hand seines Kindermädchens durch die Grünanlage auf dem Greycoat Square. Er hatte weizenblonde Haare, lachte und riss fröhlich an der Hand des Mädchens. Zum zweiten Mal an diesem Tag musste sie an Ned denken.
Er war ungefähr im selben Alter gewesen, vier Jahre, als er starb. In Lauras Gedächtnis war er fest verankert – als strahlendes, lachendes Kind, das nie älter wurde, jedoch genauso Teil ihrer Gedanken war wie Tom, ihr älterer Bruder, der inzwischen in Oxford Theologie studierte und sich anschickte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.
Laura sah dem Kind nach, bis es verschwunden war. Dann schaute sie in ihren winzigen Spiegel (er war deshalb so klein, weil ihre Mutter es schändlich fand, sich mit seinem Äußeren zu beschäftigen) und steckte die Haarnadeln fest, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite ihres Kopfes.
Im Haus war es ruhig; es war ein Freitag während der Fastenzeit, und der unangenehme Geruch gekochten Fischs kroch die Treppe hinauf. Laura blieb kurz vor Carolines Zimmer stehen und stellte fest, dass die Tür, die normalerweise verschlossen war, einen Spalt aufstand. Sie spähte kurz hinein und rechnete damit, ihre Mutter zu sehen oder Polly mit dem Staubwedel, aber es war niemand da. Sie ging hinein, schloss die Tür hinter sich und atmete den leichten Hauch von Bienenwachs ein.
Das Zimmer war noch genau so, wie Caroline es verlassen hatte. Das Bett war ordentlich gemacht, der Kamin gefegt, die Möbel entstaubt. Carolines Kinderschätze – ein Teddybär, ihre Puppe mit dem weißen Porzellangesicht, eine Kiste mit hübschen Knöpfen – waren auf der Kommode aufgereiht. Auf einer Handarbeit an der Wand, die sie im Alter von acht Jahren mühevoll selbst bestickt hatte, standen ihr Name und ihr Geburtsdatum: 18. Mai 1861. Bücher, Zeichenblöcke, ein Buch mit gepressten Blüten waren auf dem Bücherregal aufgereiht. Auf dem Spitzendeckchen auf dem Waschtisch lagen die silberne Haarbürste, der Kamm und der Spiegel, die sie zum sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
Alles sah so aus, als würde Caroline im nächsten Augenblick ins Zimmer treten.
Dabei würde sie es nie wieder tun.
Laura legte sich aufs Bett, vorsichtig, um die Laken nicht zu zerknittern, und zog die Tagesdecke ein Stück zurück, um die Wange aufs Kissen zu drücken. Mit geschlossenen Augen atmete sie hoffnungsvoll ein, von Carolines Lieblings-Veilchen-Eau de Toilette war allerdings nichts mehr übrig. »Caroline«, flüsterte sie leise und lauschte. Aber es gab kein Gespenst, das eine Antwort wisperte.
Carolines Tod mit fast siebzehn Jahren lag nun ein Jahr zurück. Es war ein langer, schleichender Tod gewesen, nach einer Jahre dauernden Blutkrankheit, die aus dem einst fröhlichen, rundgesichtigen Kind ein blasses, mageres Mädchen gemacht hatte, das nie richtig zur Frau geworden war.
Der kleine Ned dagegen war ganz schnell gestorben. Eines Tages war er im Pfarrgarten in Hampstead hinter dem Hund der Nachbarn hergejagt, der durch den Zaum geschlüpft war, und im nächsten Moment hatte er im Koma
Weitere Kostenlose Bücher