Der Zauber des Engels
»1879–81« ließ sich ganz leicht öffnen, und als ich hineinspähte, wusste ich auch, warum. Nur die hinteren Hängeregister enthielten irgendwelche Unterlagen.
Ich kehrte zum Schreibtisch zurück, sortierte die Ordner nach dem Datum und trug sie dann hinüber, um sie in die Hängeregister einzuordnen. Als ich bei 1880 angelangt war, wo ich den Brief von Reverend Brownlow und die Zeichnung gefunden hatte, stieß ich gegen ein Hindernis. Ich legte den Ordner auf den Schrank ab und untersuchte das Fach.
Meine Finger berührten etwas Hartes – eine Art Buch. Ich packte es und zog es heraus. Es hatte die Größe eines schmalen Hardcovers, und als ich es aufschlug, sah ich sofort, dass es sich um eine Art Tagebuch handeln musste, denn die einzelnen Seiten waren mit einer sauberen weiblichen Handschrift gefüllt. Im Umschlag stand ein Name, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen.
Denn es war der Name, den ich nun schon mehrmals gelesen hatte, der Name unter der Zeichnung der jungen Frau, der Name, der Dads Interesse geweckt hatte. Wer war Laura Brownlow? Es sah aus, als würde ich nun endlich die Antwort bekommen.
Die Einträge begannen im Juni 1879, die erste Seite war ziemlich verblasst und kaum noch zu lesen. Ich setzte mich wieder an Dads Schreibtisch und begann im Schein der Lampe die gleichmäßig schrägen, sepiafarbenen Buchstaben zu entziffern.
Sonntag, 18. Mai 1879
Herzlichen Glückwunsch zu Deinem Geburtstag, meine liebe Schwester Caroline! Unvorstellbar, dass Du nun achtzehn wärst! Mama und Papa, Harriet, George und ich haben heute einen besonderen Gottesdienst für Dich gefeiert. Und Tom ist extra von Oxford nach Hause gekommen. Hast Du uns gesehen und gehört? Ich glaube schon. Du kamst mir so nah vor, so als wärst Du dort »zwischen Luft und Engeln« gewesen, für uns just nicht zu greifen.
Ich denke immer noch ständig an dich. Wenn ich aufwache, muss ich mich daran erinnern, dass das Zimmer nebenan leer ist, dass ich heute nicht zu Dir gehen kann, um Dir vorzulesen oder mit Dir Karten zu spielen. Ich werde nachts oft wach, weil ich mir einbilde, Du hättest meinen Namen gerufen, und die Wahrheit lastet dann so schwer auf mir wie die Dunkelheit.
So vieles erinnert mich an Dich. Eine Zeile aus einem Lied, das Du immer gesungen hast. Letzte Woche hat Mrs. Jorkins ein paar alte Stiefel von Dir gefunden und Mama gefragt, ob sie sie wegwerfen soll. Aber das habe ich nicht zugelassen und sehr geweint. Du bist nun seit drei Monaten fort, und die Taubheit, die ich anfangs gespürt habe, legt sich ganz allmählich. Stattdessen empfinde ich einen beständigen Schmerz über Deinen Verlust, über das Bewusstsein, dass unser gemeinsames Leben nun vorüber ist, für immer. Als ich diese Stiefel sah, dachte ich einen Moment lang, ich könne Dich noch einmal festhalten. Ich habe mich geirrt.
Langsam blätterte ich die Seiten um, bewegt über die Trauer der Verfasserin. Laura Brownlow war also offenbar die Tochter von Reverend James Brownlow, dem Mann, der die Fenster von St. Martin’s in Auftrag gegeben hatte. Und sie richtete ihre Tagebucheinträge an Caroline, die tote Schwester, der zu Ehren das Engelfenster gefertigt worden war. Laura schrieb an Caroline, als wäre sie noch am Leben – oder als glaubte sie, ihre Schwester jenseits des Grabes erreichen zu können. Wie tief musste ihre Trauer gewesen sein.
Ich las weiter. Die Einträge waren sporadisch, so als hätte Laura nur dann geschrieben, wenn sie das Bedürfnis danach verspürte oder wenn etwas passiert war, was sie ihrer Schwester unbedingt mitteilen wollte. Im Juni 1879 freute Laura sich über eine erfolgreiche akademische Prüfung ihres Bruders Tom. Im August berichtete sie, dass ein Grabstein auf dem Grab des toten Mädchens errichtet worden war. Im November folgte die aufregende Nachricht, dass ihre verheiratete Schwester Harriet im April Mutter werden würde.
Ab dem neuen Jahr 1880 wurden Lauras Einträge regelmäßiger und ausführlicher, und schon bald war ich voll und ganz in ihre Geschichte versunken …
7. KAPITEL
Der Engel im Haus
Coventry Patmore
LAURAS GESCHICHTE
An diesem kühlen Februarmorgen hoffte Laura das Löwenbaby wiederzusehen. Der Weg zum Westminster Hospital führte sie über die Victoria Street in Richtung der Abtei, und als sie gestern diesen Weg gegangen waren, hatten sie und Mama gesehen, wie ein Junge mit gebrochener Nase und mürrischem Gesichtsausdruck das arme Tier am Zaun des Royal Aquariums
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