Der Zauber des Engels
mehrere Tage ans Bett, mit zugezogenen Vorhängen. Aber Mama aß immerhin ein paar Gabeln Fisch, was ein gutes Zeichen war. Vermutlich war sie bloß müde.
»Wie soll es einem Mann so gelingen, eine junge, eigensinnige Frau zu führen?« Papa richtete die Frage allgemein in die Runde.
»Warum sollte eine gebildete Frau nicht selbst einige Entscheidungen treffen und über ihr Vermögen verfügen können, Papa?«, fragte Laura ruhig.
Ihr Vater schluckte einen Bissen hinunter und runzelte die Stirn. »Du bist noch viel zu jung für so eine Diskussion, Laura«, antwortete er. »Wenn du mit einem Mann verheiratet wärst, dem du mit Leib und Seele vertraust, so wie deine Mama mir vertraut, würdest du vielleicht verstehen, wieso die jetzige Gesetzeslage durchaus sinnvoll ist.«
Er wechselte einen Blick mit Mr. Bond, der seltsam lachte. Was ist so lustig an meinen Worten?, rätselte Laura.
»Eine gebildete und pflichtgetreue Ehefrau ist durchaus aufgefordert, ihren Ehemann beratend zu unterstützen, Miss Brownlow«, sagte Mr. Bond freundlich. »Und dann kann ihr Mann für sie beide entscheiden.« Er steckte seine letzte Gabel Fisch in den Mund, legte Messer und Gabel zusammen auf den Teller und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »In der Mehrheit der Fälle«, fuhr er fort, »wird eheliche Eintracht herrschen. Doch das neue Parlament könnte sich von den monströsen Beispielen leiten lassen, in denen der Mann seine Verantwortung vernachlässigt oder gar missbraucht.«
Laura gab angesichts des Durcheinanders von Gräten auf ihrem Teller auf. Während sie höflich darauf warteten, dass auch Mrs. Brownlow mit dem Essen fertig wurde, wanderten ihre Gedanken zu einer Geschichte, die sie gern schreiben würde, über eine Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde. Vielleicht würde sie noch heute Abend damit beginnen, jetzt wo das bestickte Altartuch für die Osterzeit, das sie so viele lange Abende beschäftigt hatte, endlich fertig war.
Als sie sich wieder auf die Unterhaltung konzentrierte, sprach Mr. Bond gerade über einen Nachlass, der der Kirche vor Kurzem zugefallen war. »Mrs. Fotheringtons Neffe hat mir ihr Testament gezeigt. Sie wünscht sich ein Fenster für die Marienkapelle mit einem angemessenen Thema.«
Laura vermisste Sarah Fotherington, die vor weniger als zwei Wochen bei einem Missionarskränzchen für Damen tot umgefallen war. Nicht weil sie sie besonders gemocht hätte, sondern weil sie sich mit Mama die Arbeit in der Gemeinde geteilt und die Sonntagsschule geleitet hatte. Nun erwartete man offenbar, dass Laura diese Aufgaben übernahm. Niemand hatte sie gefragt, es wurde einfach vorausgesetzt, dass sie das tat.
Als Mama schließlich Messer und Gabel aus der Hand legte, hatte sie kaum etwas gegessen. Polly trat vor, um die Teller abzuräumen, und Mama sagte mit verträumter Stimme: »Eine Mutter mit ihrem Kind. Das wäre genau das Richtige für eine Marienkapelle – die Jungfrau mit dem Kind.«
Laura und Papa schauten sich erschrocken an, denn sie kannten Mrs. Brownlows Neigung zur Melancholie. Aber Mamas Blick war fest, ohne jede Spur von Tränen.
»Eine sehr gute Idee, meine Liebe«, antwortete Papa.
Mrs. Jorkins brachte die Schüsseln mit Grießbrei herein und stellte feierlich eine Schale mit ihrem besten Zwetschgenkompott auf den Tisch.
Nervös schaute Mr. Bond zwischen Mann und Frau hin und her. »Ich kann Mrs. Brownlows Vorschlag gern mit Mrs. Fotheringtons Neffen Mr. Stuart Jefferies besprechen, wenn Sie das wünschen, Herr Pfarrer.«
»Ja«, antwortete Mr. Brownlow und reichte ihm das Kompott. Laura sah zu, wie Mr. Bond sich eine kleine Portion auf den Teller häufte, dabei aber ein Gesicht machte, als würde er gern mehr nehmen. »Jefferies scheint ein sehr vernünftiger Mann zu sein.«
»Gibt es in der Marienkapelle denn nicht mehrere Fenster, James?«, fragte Mrs. Brownlow leise und nahm sich einen winzigen Löffel Zwetschgen.
»So ist es, meine Liebe, aber eins ist halb zugestellt von einem Schrank. Eine Jungfrau mit Kind würde gut in das Fenster über dem Altar passen, findest du nicht auch?«
»Oh ja, und das Kind … James, ihr solltet auf jeden Fall nur einen Künstler beauftragen, der sich auf das Zeichnen von Babys versteht.«
»Die Babys sind meist so hässlich«, stimmte Laura zu und häufte sich eine ordentliche Menge Zwetschgen über den verhassten Grießbrei. »Die größten Künstler waren immer weitaus mehr an ihrem weiblichen Modell als an der lebendigen
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