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Der Zauber des Engels

Der Zauber des Engels

Titel: Der Zauber des Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Hore
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entlanggezerrt hatte. Aber das Jungtier, kaum dem Säuglingsalter entwachsen, hatte eher erstaunt als verängstigt gewirkt. Es hatte an seinem Seil gezogen und war über seine viel zu großen Pfoten gestolpert. Der Junge hatte es zurückgerissen und zugleich eine Horde Bengel geschimpft, die den Kleinen aus sicherer Entfernung abwechselnd lockten und mit Steinen bewarfen.
    »Das arme kleine Ding.« Laura hatte ihre Mutter dazu gebracht, einen Moment stehen zu bleiben. Bewegt hatte sie dem Tier zugesehen, das in einer Umgebung gefangen war, für die es nicht geschaffen war, und zweifellos dazu gezwungen wurde, sich mit den anderen Löwen einer heulenden Zuschauermeute zu präsentieren. Nicht dass Laura diese Meute je erlebt hätte. Sie hatte bisher noch nie einen Fuß in das Aquarium gesetzt, um sich den Zirkus oder die Monstrositätenschaus anzuschauen, auf dem Eis Schlittschuh zu laufen oder staunend den Fischen zuzusehen. »Drittklassige Unterhaltung für drittklassige Menschen«, hatte ihr hochnäsiger Schwager George verächtlich geschnaubt, als sie das Thema gestern Abend beim Essen angeschnitten hatte – aber die grellen Titel auf den Plakaten reichten ihr, um sich die fantastischsten Dinge auszumalen.
    Zu ihrer Enttäuschung war der kleine Löwe nicht da. Vielleicht überstieg ein Spaziergang durch den eisigen Nebel heute selbst die Grausamkeiten, die er sonst erdulden musste. Gut, wenn das der Grund war. Aber vielleicht war der Löwentrupp auch einfach weitergezogen und hatte das Junge mitgenommen. Laura blieb stehen, um sich von einem frierenden kleinen Jungen einen Prospekt in die Hand drücken zu lassen. »Zwei spektakuläre Luftakrobaten« standen heute auf dem Programm. Von Löwen war keine Rede.
    »Trödele nicht so herum, Laura«, mahnte ihre Mutter. »Gib mir die Tasche.« Dankbar reichte Laura ihr die schwere Segeltuchtasche und folgte ihrer Mutter zum Krankenhaus, das ihr mit seinen Schutzwällen und den Flaggen immer eher wie eine Burg vorkam.
    Der Besuch bei den Frauen auf der Station für die unheilbar Kranken dauerte heute doppelt so lange wie geplant. Nach der üblichen Bibellesung und den Gebeten hatte eine junge Mutter ihnen das Herz ausgeschüttet und anvertraut, wie sehr sie sich um ihre Familie sorge; eine andere hatte Laura einen weitschweifigen Abschiedsbrief an ihren Sohn, einen Matrosen, diktiert, den sie jahrelang nicht gesehen hatte.
    Mutter und Tochter verließen das Krankenhaus erst in dem Moment, als der in dichten Nebel gehüllte Big Ben elf Uhr schlug. »Haben wir jetzt noch genug Zeit für unsere Einkäufe, Mama?«, fragte Laura hoffnungsvoll. Ihre Mutter hatte ihr versprochen, Stoff für ein neues Kleid zu kaufen. Ihr altes war inzwischen vier Jahre alt und so abgetragen, dass es schon Löcher hatte. Aber sie ahnte die Antwort bereits.
    »Ich fürchte, damit werden wir bis zum nächsten Mal warten müssen, Liebes. Wir haben ja kaum noch Zeit, bei den Coopers vorbeizuschauen. Und du weißt doch, dass dein Vater Mr. Bond zum Mittagessen eingeladen hat.«
    Laura seufzte, aber als sie die Sorgenfalten auf der Stirn ihrer Mutter sah, schluckte sie die Enttäuschung hinunter.
    Sie bahnten sich einen Weg zurück durch die Menschenmassen auf der Victoria Street, wo an fast jeder Haustür Messingschilder von Architekten und Anwälten glänzten – alles solche Mr. Bonds. Dann bogen sie nach links ab und gingen weiter südlich in Richtung Fluss. Wenig später befanden sie sich in einer anderen Welt. Männer lungerten zwischen Schmutz und Unrat herum, es war laut, Kinder schrien, Frauen stritten sich, Türen wurden geknallt. Der Gestank war unbeschreiblich. Laura hatte jedes Mal den Eindruck, dass ihre Kleider lange nach einem Besuch im Armenviertel der Gemeinde ihres Vaters muffig rochen. Diese düsteren Gassen erinnerten sie an die Beschreibung der Unterwelt in dem Buch über griechische Sagen, das sie Caroline in den Zeiten ihrer langen Krankheit immer vorgelesen hatte.
    Während die beiden Frauen sich vorsichtig einen Weg durch Matsch und Lehm bahnten, rief ihnen ein Rüpel, der in einem Hauseingang herumlungerte, etwas zu, und Laura sah ihre Mutter unsicher an. Mama hielt den Kopf hocherhoben, aber zwei hektische Flecken auf ihren Wangen verrieten ihre Verärgerung.
    »Komm, Laura«, befahl sie und zog sie mit, vorbei an einem Grundstück, auf dem einige besonders baufällige Häuser abgerissen worden waren, um Raum für neue zu schaffen. Inzwischen waren jedoch mehrere Familien

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