Der Zauber des Engels
auf das Gelände eingedrungen und hatten sich notdürftige Unterkünfte gebaut. Als Nächstes kamen sie an der alten Schule vorbei. Durch die kaputten Fenster sah man die Lehrerin Miss Pilkington mit ihrem Vogelgesicht. Sie zeigte auf eine zerschlissene Landkarte an der Wand. Dann ging es durch eine noch engere und dunklere Gasse und durch eine ramponierte Haustür ein paar Stufen hinauf in eine Diele, in der es zusätzlich zu den anderen widerwärtigen Gerüchen nach feuchtem und verschimmeltem Holz roch. Laura konzentrierte sich darauf, nur durch den Mund zu atmen, während sie ihrer Mutter eine weitere Treppe hinauffolgte.
Die Tür zu den Räumen, in denen die Coopers hausten, stand weit auf, aber die Mutter klopfte höflich an und wartete. Ein kleines Mädchen steckte ängstlich den Kopf heraus, ehe sie die beiden eintreten ließ.
»Hallo Ida«, sagte Mama. »Das ist meine Tochter, Miss Laura. Wie geht es deiner Mutter denn heute, meine Kleine?«
»Nicht gut, Madam, aber sie hat die Brühe geschlürft, die Sie und die andere Frau ihr dagelassen haben«, antwortete das kleine Mädchen und sah Laura schüchtern an. Beim letzten Mal hatte Mama das Hausmädchen Polly mitgenommen.
Als Lauras Augen sich etwas an das trübe Licht gewöhnt hatten, erkannte sie, dass der Raum voll von schmutzig aussehenden Kindern war, die auf dem Holzboden auf widerwärtig aussehenden Strohmatten lagen oder in zerrissene Decken eingehüllt waren und die Besucher mit hungrigen Augen anschauten. Ebenso wie Ida in ihrem zerlöcherten Kleidchen. Laura erinnerte sich, dass ihre Mutter gesagt hatte, sie sei zwölf. Dabei hätte sie leicht für acht durchgehen können.
Die Mutter reichte Laura die Tasche, und Laura packte die Brotpakete von der Köchin Mrs. Jorkins aus, um sie an die Kinder zu verteilen. Sie hatten kaum die Kraft, die Wohltaten in Empfang zu nehmen. Es gab auch eine Flasche Milch, deren Inhalt Laura in Emaillebecher goss und an die kleineren Kinder verteilte. Alles war viel zu schnell weg. Als Nächstes würde sie Ida bitten müssen, ihr beim Waschen zu helfen; aber erst musste sie wissen, wie es deren Mutter ergangen war.
Durch den Korridor gelangte man in ein zweites Zimmer. Auf einer Matratze auf dem Fußboden lag eine Frau mit zerzausten roten Haaren unter einer dünnen Decke. Ihr Gesicht glühte fiebrig. Ihre Mutter wollte ihr Bett machen, und Laura half, die Kranke vorsichtig auf die Seite zu drehen, damit Mama das alte durchgeschwitzte Laken entfernen konnte. Laura merkte, wie ihr übel wurde, als sie die Lache aus frischem Blut erblickte.
»Wir müssen den Arzt holen, Molly«, sagte die Mutter leise, und als die Frau etwas von den viel zu hohen Kosten murmelte, fügte sie hinzu: »Mach dir keine Sorgen, wir kümmern uns schon darum. Du musst jetzt an dich denken. Und an dein Baby.«
Laura kniete neben dem jüngsten Mitglied der Familie Cooper, einem neugeborenen Jungen, der regungslos in einer Holzkiste neben der Matratze lag. Seine Haut war fahl, der Blick ziellos, als suche er nach etwas, das er in diesem heruntergekommenen Haus, in dem er unglücklicherweise zur Welt gekommen war, niemals finden würde. Vorsichtig hob sie das Kind heraus und dachte daran, wie sie früher ihren kleinen Bruder Ned, ein sonniges, pausbäckiges Baby, gehalten hatte. Ihr Herz quoll über vor Mitleid für dieses stumme kleine Würmchen. Das Tuch, in das er eingewickelt war, war völlig verschmutzt. Sie bat Ida, ihr etwas Wasser zu bringen, und suchte in der Tasche nach sauberen Windeln.
Als alle gefüttert, gewaschen und umgezogen waren, gingen sie wieder. Ihre Mutter versprach noch einmal, einen Arzt zu schicken.
»›Auf der Suche nach Arbeit‹, sagt sie jedes Mal, wenn ich mich erkundige«, lautete die bittere Antwort auf Lauras Frage nach Mr. Cooper, während sie in Richtung Greycoat Square eilten. »Ich jedenfalls habe den Jammerlappen noch nie zu Gesicht bekommen.«
Laura war erstaunt über den Ton ihrer sonst so sanftmütigen Mutter. Nach diesem Besuch waren sie beide sehr niedergeschlagen, aber Laura dachte auch, dass ihre Mutter jetzt weniger angespannt wirkte, obwohl sie beide sehr erschöpft waren.
»Danke, dass du mitgekommen bist, Laura. Du besitzt ein großes Herz und viel Mitgefühl, und du siehst, wie viel in dieser Pfarre zu tun ist.«
»Ja, Mama.« Laura seufzte und hatte sofort ein schlechtes Gewissen, dass sie nicht vor Zufriedenheit glühte, sondern einfach nur froh war, wieder auf dem Heimweg zu sein.
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