Der Zauber des Engels
er ja tatsächlich ein bisschen durcheinander, als ich fort war. Wie auch immer, er erholte sich rasch.
Danach stritten wir uns häufig um Geld, zumindest war Geld der Ausgangspunkt vieler Auseinandersetzungen. Im September erfuhr ich, dass ich ein Stipendium bekommen würde, das meine Lebenshaltungskosten deckte. Trotzdem benötigte ich noch Geld für Noten und Bücher. Und dann ließ Dad eine echte Bombe hochgehen. Er zauberte ein Sparbuch hervor, das auf meinen Namen eingetragen war. Auf dem Konto befanden sich zwölftausend Pfund.
Zwölftausend Pfund! Anfangs war ich außer mir vor Freude und glaubte, Dad hätte die Summe im Laufe der Jahre für mich angespart. Aber als ich genauer hinschaute, sah ich, dass es, abgesehen von den Zinsen, nur eine einzige Zahlung gegeben hatte – 1972. Ich sprach ihn darauf an. Und dann erzählte er es mir endlich. Die Mutter meiner Mutter war gestorben, als ich neun Jahre alt gewesen war, und hatte mir einen gewaltigen Batzen Geld hinterlassen. Und Dad hatte mir nichts davon gesagt, hatte es auf dem Sparbuch ruhen lassen, bis ich achtzehn geworden war.
Die Tatsache, dass ich nichts von diesem bedeutenden Erbe wusste, war an sich schon schlimm genug. Aber es kam noch viel, viel schlimmer. Er hatte mir nicht erzählt, dass meine Großmutter gestorben war. Erst viel später, als ich ein Teenie war und anfing, nach ihr zu fragen, sagte er mir, sie sei tot. Und er tat so, als sei sie bereits gestorben, als ich noch ein Kleinkind gewesen war. Ich vermute, es war ihm peinlich, dass er es mir zum tatsächlichen Zeitpunkt ihres Todes nicht gesagt hatte, daher hat er mich angelogen. Erst über dieses Sparbuch erfuhr ich nun also die ganze Geschichte.
Es war nicht leicht, Jo – deren Vater ein offener, mitteilsamer Mann war – klarzumachen, wie sehr die Entdeckung mich schockierte. Doch damals hatte ich wirklich das Gefühl, mein ganzes Leben sei auf den Kopf gestellt und die Beziehung zu meinem Vater gründe nur auf Lügen.
Ich hätte ihn gleich konfrontieren sollen, ihn auffordern, mir alles über meine Mutter zu erzählen und mir die gesamte Wahrheit zu sagen. Aber dazu war ich ihm zu ähnlich. Ich entschied mich für den Weg des geringsten Widerstands. Beleidigtes Schweigen. In den letzten Wochen, bevor ich aufs College ging, sprachen wir so gut wie kein Wort miteinander. Dann nahm ich mein Sparbuch, ging damit zur Bank und hob die Summe ab, die ich für ein Zimmer im Studentenwohnheim benötigte.
»Indem er mir das Geld gab«, erklärte ich Jo, »versetzte Dad sich selbst den Todesstoß. Er hatte mir damit sowohl die Mittel als auch den Grund geliefert, ihn zu verlassen.«
Ich machte eine Pause, erschöpft vom vielen Reden, aber zugleich auch nervös, wie Jo darauf reagieren würde. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen.
»Warum hast du mir das alles nicht schon damals erzählt?«, flüsterte sie. »Ich hätte dir doch geholfen. Ganz bestimmt.«
»Ich hatte dich den ganzen Sommer über kaum gesehen. Erst kam Paris, und dann bist du mit deinen Eltern in Urlaub gefahren. Und ich war mir nicht sicher … ob du das wirklich alles verstehen würdest. Du warst immer so glücklich in deiner Familie, ich habe dich oft beneidet, wirklich. Du hättest mit mir gestritten, alle hätten ihren Senf dazugegeben, und das wär’s dann gewesen.«
»Natürlich hätte ich versucht, dich zu verstehen.«
»Heute weiß ich das auch«, bestätigte ich sanft, »aber damals war für mich nichts sicher außer meiner Musik. Ich war froh, dass ich mich in das Studium stürzen konnte. Das hat mich damals gerettet.«
»Was war mit deinem Dad? Hattest du ihn danach noch besucht?«
»Ja. Ich brachte es nicht übers Herz, ihn voll und ganz allein zu lassen. Ich sagte ihm, wir müssten eine Weile auf Abstand gehen, aber ich habe vieles zu Hause gelassen und ihn regelmäßig besucht. Er veränderte sich, zog sich mehr und mehr zurück, wurde immer schweigsamer und gab mir das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben. Ich wurde sauer. Jahrelang sprachen wir kaum über etwas Wichtiges, schon gar nicht über unseren Streit. Erst vor wenigen Wochen, kurz vor seinem Schlaganfall, wurde er wieder zugänglicher. Manchmal, wenn ich mit ihm telefonierte, wirkte er so … verletzlich … wollte gar nicht auflegen. Vielleicht spürte er, dass ihm etwas passieren würde. Wenn ich eher nach Hause gekommen wäre, hätten wir vielleicht …« Ich schluckte und starrte auf meine abgekauten Fingernägel.
»Red
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