Der Zauber des Engels
dir nicht ein, dass es deine Schuld ist, Fran.« Jo legte ihre Hände auf meine. Wieder einmal rührte ihre Wärme mich tief im Innern. »Es ist vielleicht noch nicht zu spät. Versuch mit ihm zu reden. Es könnte euch beiden helfen.«
Ich nickte und lächelte verzagt. Trotz meiner Traurigkeit verspürte ich Erleichterung. Es hatte gutgetan, Jo alles anzuvertrauen. Ich wünschte, ich hätte ihr die Geschichte schon vor Jahren erzählt.
9. KAPITEL
Dann zeige Mitleid, damit du nicht einen Engel von deiner Tür weist.
William Blake , Lieder der Unschuld
Wenn ich heute zurückblicke, erkenne ich, dass dieses Gespräch mit Jo den Wendepunkt brachte. Ich hatte mich meiner Freundin geöffnet; ihre warmherzige Reaktion hatte den Eiszapfen, der mein Herz durchbohrt und in ewige Kälte getaucht hatte, endlich zum Schmelzen gebracht.
Ich dachte noch einmal an ihre Worte, als ich einem zögernden Zac den Laden anvertraute und Dad am nächsten Tag um die Mittagszeit besuchte. Ich liebte meinen Vater, das wusste ich genau. Auch wenn wir uns oft stritten und ich ausgezogen war, um mein eigenes Leben zu leben. Er war trotz allem immer noch mein Dad, der mich als kleines Kind umsorgt und mich getröstet hatte, wenn ich traurig war, der voller Stolz »mein Mädchen!« gebrummt hatte, wenn ich eine Prüfung erfolgreich bestanden oder eine bescheidene Rolle in einem Schultheaterstück ergattert hatte.
Als ich nun neben seinem Bett saß und zusah, wie er darum kämpfte, bei Bewusstsein zu bleiben, versuchte ich, das Krankenhaus zu vergessen und an das zu denken, was wir gemeinsam erlebt hatten. Es fiel mir schwer.
Vielleicht war Jos Idee, mit ihm zu reden, gar nicht so falsch. Es erschien mir im Moment unangebracht, mit den düsteren Dingen zu beginnen, den Bitterkeiten und Geheimnissen, aber vielleicht konnte ich Dad an die glücklichen Momente erinnern und ihm sagen, dass ich ihn liebte.
»Weißt du noch, Dad?«, begann ich zögernd. »Weißt du noch, als ich die Masern hatte und du mit mir Brettspiele gespielt hast und mich immer gewinnen lassen musstest? Und wie du mir Geschichten aus deiner Kindheit erzählt hast? Du hattest einen Hund, nicht wahr, der mit im Laden war – es war ein Windhund, und er hieß Silky, stimmt’s?«
Ich wartete, und dann – war es bloß ein Zufall? – blinzelte Dad auf einmal und sah mich direkt an. Verzweifelt überlegte ich, was ich ihm noch erzählen sollte. Von dem Engelfenster … das würde ihn bestimmt interessieren. Also berichtete ich ihm von Jeremy Quentins Entdeckung und davon, wie Zac und ich versucht hatten, die Einzelteile wieder zusammenzusetzen.
»Ich wünschte, du könntest uns dabei helfen, Dad«, sagte ich. »Ich wette, du wüsstest genau, wo wir die Originalzeichnung finden.«
Wieder zögerte ich. Es war seltsam, mit jemandem zu sprechen, der keine Antwort gab. Außerdem hatte ich noch nie zu den Menschen gehört, die endlos plappern konnten.
Außerdem war mir die Kluft zwischen uns bewusst. Es gab so vieles zu besprechen. Ich sehnte mich verzweifelt danach, mit ihm über meine Mutter zu reden; aber wie sollte ich das anfangen? Ich würde keine Worte über die Lippen bringen, die nicht gestelzt oder kitschig klangen. Und ich hatte Angst, ihn aufzuregen, wenn er mich hören oder gar verstehen konnte. Vielleicht sagte ich ja unbeabsichtigt etwas, das ihn verletzte oder nicht der Wahrheit entsprach, und er konnte sich nicht mal wehren. Am Ende sagte ich daher bloß: »Wenn es dir wieder besser geht, Dad, werden wir uns in Ruhe unterhalten. Ich werde häufiger bei dir sein, das verspreche ich dir.«
Sein Blick wich nicht von meinem Gesicht; er wirkte so ängstlich, dass ich erschrak. Hatte er Schmerzen? Doch dann entspannten sich seine Züge. Mit erstickter Stimme flüsterte ich: »Es tut mir leid, Dad. Es tut mir so leid.«
Als ich in den Laden zurückkam, war Zac in ein Gespräch mit einem teuer gekleideten jungen Paar vertieft. Oder besser gesagt, mit der Frau. Der Mann lief im Geschäft auf und ab und schaute sich stirnrunzelnd die Preisschilder an, während seine Frau, eine temperamentvolle Blondine mit Hornbrille, sich mit Zac über eine Serie von Fotos unterhielt, die sie auf der Theke ausgebreitet hatte. Zac betrachtete sie eingehend, nickte, unterbrach ihren Redefluss durch hartnäckige Fragen. Ich erinnerte mich, dass er ungern über Aufträge verhandelte. Ihm war die künstlerische Arbeit lieber.
Ich lächelte sie kurz an und versuchte, an ihnen vorbei in die
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