Der Zauber des Engels
manchmal, sie sind ein bisschen enttäuscht, dass ich mich mit diesen Unterprivilegierten abgebe.«
»Sie sind sicher stolz auf dich.«
»Sie sind immer noch eisern konservativ. Dad glaubt, nur weil er sich selbst aus dem Dreck gezogen hat, dürften auch andere Leute nicht durchgefüttert werden, wie er es nennt.«
Ich lächelte und dachte an Jos Vater, einen charmanten, freundlichen Mann. Seine Frau und er waren immer sehr nett zu mir gewesen. Aber vermutlich förderte es nicht gerade die fürsorgliche Seite in einem Menschen, wenn man als Spitzenanwalt in einer renommierten Kanzlei arbeitete, zumal Kevin Pryde als Aufsteiger immer unter dem Druck stand, sich selbst beweisen zu müssen, dass er so gut war wie »der Kerl am nächsten Schreibtisch auch«, wie ich ihn mal hatte sagen hören.
»Außerdem macht Mom sich Sorgen, dass ich mich nicht in den richtigen Kreisen bewege, in denen ich Männer kennenlerne, die genug verdienen, um für mich ›zu sorgen‹. Aber ich liebe meinen Job. Ich weiß, dass ich mit einem goldenen Löffel im Mund geboren bin und dass meine Eltern mich jederzeit raushauen würden, falls ich mal ernsthaft verschuldet sein sollte. Aber ich habe auch nichts dagegen, meinen eigenen Weg zu gehen. Geld ist mir einfach nicht so wichtig, verstehst du.«
Wir lachten beide, und sie berührte mich am Arm, auf ihre freundschaftliche, natürliche Art, um die ich sie immer beneidet hatte. »Es ist so schön, dass du wieder da bist.«
Und plötzlich war es mir möglich, einfach zu vergessen, dass ich unsere Freundschaft und vieles andere so lange vernachlässigt hatte. Zwölf Jahre lang waren wir getrennte Wege gegangen und hatten uns zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickelt. Aber vielleicht schafften wir es ja, noch einmal ganz von vorne anzufangen.
»Erzähl mir doch ein paar Geschichten von diesen unpassenden Männern«, bat ich sie spöttisch.
»Ach, weißt du.« Sie lachte, aber es klang nicht richtig echt. »Mama scheint einfach nur auf eine große Hochzeit zu warten.« Zu meiner Überraschung sah ich einen Hauch von Traurigkeit in ihrem Blick.
»Vielleicht lernst du ja bei der Arbeit oder im Chor jemanden kennen«, sagte ich und dachte daran, wie Dominic sie die ganze Zeit angeschaut hatte. Offenbar hatte ich einen wunden Punkt getroffen, denn sie wurde über und über rot.
»Im Heim arbeiten nur Frauen«, sagte sie. »Bis auf Ra, und der ist mit einem netten Mädchen verlobt.«
»Was ist denn mit Dominic aus dem Chor?«, ermutigte ich sie, »der scheint doch wunderbar zu sein.«
»Oh, ja, das ist er. Echt nett.«
»Mehr nicht?«
»Wir sind bloß Freunde. Ich glaube nicht, dass er mehr will. Ben ist natürlich auch ein Prachtkerl, findest du nicht?«
»Prachtkerl ist genau der richtige Ausdruck. Zu prächtig für uns Normalsterbliche.«
»Verstehe, was du meinst.« Jo seufzte. »Gibt es für dich im Moment jemand Besonderes?«
Ich verdrehte die Augen, aber es war mir gewissermaßen zur zweiten Natur geworden, nicht allzu viel über mich preiszugeben. »Das ist bei mir eine Katastrophe, das willst du gar nicht hören. Und überhaupt«, ich wechselte das Thema, »im Moment habe ich andere Dinge um die Ohren.«
Sie nickte mitfühlend. »Wie geht’s denn deinem Dad inzwischen?«
Ich kratzte an einigen Wachsflecken auf dem Tischtuch. »Wenn, und das ist das entscheidende Wort, wenn es eine Verbesserung gibt, dann nur ganz langsam. Er ist manchmal bei Bewusstsein, aber ich … ich bin mir nicht sicher, ob er mich versteht, wenn ich mit ihm spreche.«
»Das tut mir so leid, Fran. Aber du solltest trotzdem weiter mit ihm sprechen. Das soll angeblich helfen.«
»Ich weiß. Es ist bloß so schwierig … na ja, du weißt ja sicher noch, dass wir nie ein besonders enges Verhältnis hatten.«
Jo nickte. Auch wenn wir früher nur selten über die Beziehung zu meinem Vater oder über die Trauer wegen meiner Mutter gesprochen hatten, hatte Jo, wenn sie mich besuchte, oft registriert, wie distanziert er war, und mich getröstet.
»Seit ich zu Hause ausgezogen bin, habe ich ihn kaum gesehen, Jo.« Heftig rieb ich an einem besonders hartnäckigen Wachsfleck.
Jo beugte sich vor, sah mich aus ernsten blauen Augen an und fragte: »Warum bist du damals so plötzlich weggegangen, Fran? Warum bist du einfach verschwunden und hast alle Brücken hinter dir abgebrochen? Gab es einen bestimmten Grund?«
»Eigentlich wollte ich das gar nicht«, antwortete ich ausweichend. »Aber die Musik war
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