Der Zauber des Engels
Auf dem dritten las ich mit seltsamem Kribbeln: »Patientenverfügung«.
Ich legte das Testament ungeöffnet zurück und überflog rasch die beiden anderen Dokumente. Die Vollmacht ermächtigte mich, in Dads Namen zu handeln, wenn er selbst dazu nicht in der Lage war. Das war gut.
Als ich die Patientenverfügung las, stockte mir der Atem. Er hatte alle Kästchen angekreuzt und verfügt, dass er keine lebensverlängernden Maßnahmen wünschte und Jeremy Quentin letztlich die Entscheidungen treffen sollte. Jeremy, nicht ich! Meine Empörung legte sich etwas, als ich darüber nachdachte, dass es problematisch sein konnte, mir als Alleinerbin zugleich die Macht über Leben und Tod zu verleihen. Und wahrscheinlich würde Dad sein Eigentum mir vermachen.
Ich legte die Dokumente zurück, verschloss die Mappe wieder, schob sie unters Bett und ging hinunter, um die nötigen Telefonate zu führen und die Vollmacht in Kraft zu setzen. Die Patientenverfügung würde ich am Abend mit ins Krankenhaus nehmen.
Ich verbrachte den Nachmittag mit Amber im Laden, erklärte ihr die verschiedenen Glassorten und die dazugehörigen Preise sowie ein paar Werkzeuge, die wir ebenfalls verkauften. Sie war fasziniert von den verschiedenen Farbeffekten, die man mit dem Glas erzielen konnte, und wiederholte die einzelnen Sorten und Fabrikationen wie ein Mantra.
Was sie ebenso faszinierte, war das zerstörte Engelfenster. »Es ist so traurig«, flüsterte sie, als Zac ihr die Einzelteile zeigte, die er aus Platzgründen inzwischen in die Ecke geschoben hatte. »Kriegt ihr das wirklich wieder hin?«
»Wir wissen es noch nicht«, antwortete er. »Wir brauchen dringend mehr Hinweise darauf, wie es früher einmal ausgesehen hat.«
Es war fast fünf, und ich holte die Schlüssel aus dem Büro, um den Laden abzuschließen. Als ich zurückkam, betrachtete Amber noch immer den kaputten Engel. Ich sah zu, wie sie ein Stück goldenes Glas in die Hand nahm und versuchte, es mit einem anderen zusammenzusetzen. Ohne Erfolg.
»Du musst jetzt nach Hause gehen«, sagte ich. »Für heute hast du genug gearbeitet. Wir sind sehr zufrieden mit dir.«
»Danke«, antwortete sie und lächelte schüchtern. »Es macht mir auch riesigen Spaß.«
»Bis morgen«, meinte Zac.
»Einen schönen Abend«, sagte sie, als ich sie zur Hintertür begleitete.
»Den habe ich hoffentlich«, antwortete ich, und dann fiel mir ein, dass um halb sieben Chorprobe war.
Mit blieb gerade noch genug Zeit, um vorher kurz bei meinem Vater vorbeizuschauen.
Als ich im Krankenhaus eintraf, fand ich Dad zu meinem Schrecken mit einer Plastikmaske über Mund und Nase vor. Die Schwester, die mir die Patientenverfügung abnahm, um sie zu fotokopieren und zu Dads Akte zu legen, erklärte mir, sein Atem sei flacher geworden und die Sauerstoffsättigung gesunken. Inzwischen habe er sich jedoch schon wieder etwas erholt.
Aber er war wach und sah mich über die Maske hinweg an, als ich mich zu ihm ans Bett setzte. Ich erzählte ihm von Amber und von meinem Besuch im Pfarrhaus, erwähnte jedoch nicht, was ich von seinen Gesprächen mit Jeremy Quentin wusste. Dieses Mal fiel es mir schwer, mich zu verabschieden. Irgendwie hatte ich heute stärker als je zuvor das Gefühl, dass die Zeit kostbar war, die ich mit Dad verbrachte.
In der einsetzenden Dämmerung machte ich mich seltsam energielos auf den Weg nach Hause. Mein früherer Enthusiasmus war verschwunden. Am liebsten wäre ich auch nicht zum Chor gegangen, aber ich zwang mich dazu. Sonst würde ich nur zu Hause sitzen und ein schlechtes Gewissen haben. Außerdem heiterte mich das Singen auf.
Obwohl ich ein paar Minuten zu spät kam, war ich froh über meine Entscheidung, überhaupt an der Probe teilgenommen zu haben. Dieses Mal machte Ben einen Schnelldurchlauf des Teufelschors, wo sich Dämonen, »hungrig und gierig, sich ihres Eigentums zu bemächtigen«, am Gerichtshof versammelt hatten und die Seelen der frisch Verstorbenen verhöhnten. Wenn die Stelle richtig gesungen wird, läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Aber an diesem Abend sangen viele Bässe vom Blatt, und der Rest des Chors brach jedes Mal in hilfloses Gekicher aus, wenn die Männer mit ihren tiefen Stimmen sich am johlenden »Ha-Ha« versuchten.
»Das klingt ja jämmerlich! Wie Weihnachtsmänner, nicht wie Teufel«, polterte Ben irgendwann, »legt mal etwas Pathos in eure Stimmen, verdammt noch mal!«
Seine Stimme klang nach echter Verzweiflung, und ich hörte, wie
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