Der Zauber des Engels
war es eine Woche her, dass ich wieder zu Hause angekommen war, aber es kam mir viel länger vor. Nach einigen Diskussionen entschieden Zac und ich, Amber einen Teilzeit-Job anzubieten. Wir brauchten dringend Hilfe. Wenn Zac unterwegs war, war ich an den Laden gebunden. Das war manchmal nicht nur sehr einsam, sondern bedeutete auch, dass ich nichts anderes tun konnte, zum Beispiel mich dem Papierkram widmen oder Besuche machen. Also telefonierte ich am Wochenende ein paarmal mit Jo, Amber kam am Sonntag vorbei – und fing am nächsten Tag an, bei uns zu arbeiten. Wir verabredeten eine wöchentliche Arbeitszeit von achtzehn Stunden.
Amber war ein sehr schüchternes Mädchen, aber sie besaß eine natürliche Freundlichkeit und großes Einfühlungsvermögen. Ich war sicher, dass sie die Kunden schnell für sich einnehmen würde. Was mir allerdings von Anfang an Kopfzerbrechen bereitete, war ihre Vertrauensseligkeit.
»Wie kommst du mit den anderen Mädchen im Heim zurecht?«, fragte ich sie und rechnete damit, dass sie sich darüber beklagen würde, schikaniert zu werden.
»Sie sind ganz okay«, antwortete sie schulterzuckend. »Eigentlich sind sie sogar sehr lustig.« Es blieb mir verborgen, ob sie ihnen gegenüber eine seltsame Form der Loyalität empfand oder ob sich die Situation tatsächlich gebessert hatte. Doch während sie das sagte, hob sie ihre Hand an den Hals und berührte den merkwürdig geformten Kettenanhänger in ihrem Ausschnitt.
»Du hast eine schöne Kette an, Amber. Was ist das für ein Anhänger?«
Sie zeigte ihn mir. Es war ein winziger silberner Engel. Er hatte den Kopf gesenkt, die Flügel waren über dem Kopf gefaltet. »Ich habe ihn von meiner Großmutter und trage ihn die ganze Zeit. Er beschützt mich.«
Zac war amüsiert und fasziniert zugleich. Ihr Interesse an seiner Arbeit schmeichelte ihm. In einer ruhigen Minute beobachtete ich, wie er ihr beibrachte, das Glas mit dünnem Kupferdraht einzufassen und einen einfachen Sonnenfänger herzustellen, indem er die Teile zusammenlötete. Aufgeregt plapperte sie vor sich hin. »Hab ich alles richtig gemacht? Hält man das so … oh! Das tut mir jetzt wirklich leid! Ich hab alles vermasselt, oder?« Er forderte sie auf, es noch einmal zu versuchen, bis sie es konnte, und das mit so viel Geduld und Zuspruch wie ein Vater bei seiner kleinen Tochter.
»Du liebst deinen Beruf, Zac, habe ich recht?«, hörte ich sie einmal sagen. »Dein Gesicht leuchtet richtig, wenn du arbeitest.«
Danach beobachtete ich Zac genau, wenn ich durch die Werkstatt ging. Amber hatte recht. Wenn er sich darauf konzentrierte, Muster zu zeichnen oder Glas zu bemalen, war sein sonst üblicher Missmut wie weggeblasen.
Im Laufe des Vormittags brachte der Briefträger eine Stromrechnung, die drohend mit »Letzte Mahnung« überschrieben war. Beunruhigt lief ich nach oben, um die Finanzen zu überprüfen. Amber konnte ich getrost ein paar Minuten allein im Laden lassen.
Zac hatte mir geraten, mich mit Dads Steuerberater in Verbindung zu setzen, aber ich wollte mir erst die Kontoauszüge anschauen. Ich zog die Dokumentenmappe unter dem Bett hervor, klopfte den Staub ab und versuchte sie zu öffnen. Sie war verschlossen, aber ich fand den Schlüssel in der Schublade seiner Nachtkommode. Ich steckte ihn in das Schloss, und nach kurzer Zeit hatte ich die Mappe geöffnet.
Es war ein seltsames Gefühl, auf die ordentlich sortierten Unterlagen zu blicken, die mit »Hypothek«, »Krankenkasse«, »Testament«, »Zeugnisse« und »Verschiedenes« beschriftet waren. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie wertvolle Informationen über Dad und vielleicht sogar über meine Mutter enthielten. Aber offenbar war Jeremy Quentins Vortrag über vertrauenswürdiges Verhalten am Tag zuvor nicht ohne Wirkung auf mich geblieben. Ich wusste, dass es einem Verrat an meinem Vater gleichkäme, in seinen Unterlagen zu kramen, während er hilflos im Krankenhaus lag. Wenn ich das tat, würde ich ihm nicht mehr ins Gesicht schauen können. Aber es gab noch einen weiteren Grund für mein plötzliches Zögern: Ich hatte Angst vor dem, was mir in die Hände fallen würde. Also ignorierte ich die persönlichen Unterlagen und suchte weiter, bis ich das fand, was Zac und ich brauchten.
Die Kladde enthielt einen länglichen braunen und einige große weiße Umschläge. Auf dem braunen stand: »Testament und letzter Wille von Edward James Morrison«. Auf einem der weißen Umschläge las ich: »Vollmacht«.
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