Der Zauber des Engels
Schoß lagen. »Dann denken Sie diesbezüglich also wie Mr. William Morris«, meinte sie und spürte seinen warmen Blick.
»Meine Frau ist entfernt verwandt mit Mr. Morris«, sagte er. »Ich hatte das große Glück, viele Diskussionen über dieses Thema mit ihm führen zu dürfen. Ich nehme ab und zu Aufträge seiner Firma an.«
Die Worte »meine Frau« überraschten Laura. Andererseits wusste sie nicht, wieso sie angenommen hatte, er sei Junggeselle. Vielleicht wegen seiner verschlissenen Manschetten.
»Nehmen Sie denn beim Anfertigen der Fenster keinerlei Hilfe in Anspruch?«, fragte sie.
»Natürlich bin ich nicht in der Lage, das Glas herzustellen. Aber ich berate gern hinsichtlich der genauen Farbgebung, zeichne die Umrisse selbst, schneide das Glas zu, bemale es und brenne das fertige Stück. Um das Fenster am Ende einzusetzen, engagiere ich natürlich einen Handwerker, aber auch diese Arbeit überwache ich persönlich.«
»Besitzen Sie ein eigenes Atelier?«
»Selbstverständlich, Miss Brownlow. Ich male auf dem Dachboden meiner Wohnung in der Lupus Street, aber meine Tätigkeit führt mich häufig zu Minster Glass , wo ich die Werkzeuge und Materialien finde, die ich benötige.«
»Ihre Engel«, sagte Mrs. Brownlow und schaute von den Fotografien auf, »sind so lebendig, nicht nur spirituelle Wesen aus Luft. Ich stelle mir gerne vor, dass Caroline …« Sie stockte, als sei sie unfähig, die richtigen Worte zu finden.
»Was stellst du dir gerne vor, Mama?«, flüsterte Laura und beugte sich vor, um die Hand ihrer Mutter zu streicheln.
»Dass Caroline an einem schöneren Ort als diesem hier ist. Dass sie zu der Frau herangereift ist, die sie geworden wäre, wenn sie am Leben geblieben wäre. Warmherzig und voller Energie … keine fleischlose Gestalt.«
Eine Zeit lang war es ganz still, dann neigte Mr. Russell den Kopf zur Seite und sagte: »Ich glaube, ich sehe sie vor mir, Madam. Wünschen Sie und Ihr Mann, dass die Gesichtszüge des Engels Ähnlichkeit mit Ihrer Tochter haben? Das Gesicht auf der zweiten Fotografie ist sehr unscharf, und vielleicht halten Sie es ja für unangemessen …« Er brach ab.
Mrs. Brownlow hatte den Kopf gesenkt. An ihren bebenden Schultern erkannte Laura, dass sie weinte. Sie stand rasch auf.
»Meine Mutter ist erschöpft von der anstrengenden Nacht, die hinter uns liegt. Sie haben sicher Verständnis …«
Mr. Russell erhob sich sofort. »Natürlich. Ich habe ohnehin noch einen weiteren Termin. Mrs. Brownlow, Sie haben mein uneingeschränktes Beileid und meinen Respekt für Ihre tiefe Trauer. Ich versichere Ihnen, dass ich für dieses Denkmal mein Bestes geben werde, zu Ehren Ihrer Tochter.«
Nach einer knappen Verbeugung und einem hastigen »Auf Wiedersehen« folgte er Laura hinaus in die Diele. Glücklicherweise erschien Polly sofort und brachte ihm Hut und Mantel. Er nahm Lauras Hände in seine, und sie senkte den Blick. Ein Knopf an seinem Mantel hing nur noch an einem Faden. Vielleicht hatte seine Frau es noch nicht bemerkt.
»Danke für Ihr Verständnis«, sagte sie leise. »Ich glaube, Mama wollte Sie auch um den Entwurf des anderen Fensters bitten. Und Papa hätte Sie bestimmt ebenfalls gern kennengelernt.«
»Bitte versichern Sie Ihren Eltern, dass ich mein gesamtes Können in diese Arbeit legen werde. Was die Jungfrau mit dem Kind angeht, werde ich, wie vereinbart, den Neffen der Stifterin, Mr. Jeffrey …«
»Jefferies.«
»Mr. Jefferies, natürlich. Ich werde ihn morgen Nachmittag aufsuchen. Am Vormittag beabsichtige ich, noch einmal in die Kirche zu gehen, um einige Vermessungen vorzunehmen. Halten Sie es für unverschämt, Miss Brownlow, wenn ich darum bitten würde, dass jemand aus Ihrer Familie mir dabei beratend zur Seite steht?«
»Das lässt sich sicher arrangieren. Vater hält um acht das Morgengebet, es ist gegen halb neun beendet. Warum kommen Sie nicht anschließend?«
»Vielleicht komme ich bereits zum Morgengebet. Ich sollte den Angelegenheiten der Seele mehr Aufmerksamkeit schenken.« Seine Augen funkelten fröhlich. »Guten Tag, Miss Brownlow.«
Und dann war er fort. Sobald Polly verschwunden war, rannte Laura in den Salon, um durchs Fenster zu spähen; aber der Wagen des Bäckers, der vor ihrem Haus hielt, verhinderte, dass sie ihm einen letzten Blick nachwerfen konnte.
13. KAPITEL
Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe.
Exodus 23,20
Am Samstag
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